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Reise zu Lena

Reise zu Lena

Titel: Reise zu Lena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Neven DuMont
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sämtlichen Krankheiten auszubreiten, gelegentlich unterbrochen von ihrem Begleiter, der immer wieder nickte und beruhigend nach ihrer Hand griff, bestätigend und voller Mitleid. Aber sie blieb auf der Hut, ließ mich keine Minute aus ihren mich scharf beobachtenden Augen. Als sie feststellte, dass sie mich mit ihrer ausführlichen Krankheitsgeschichte nur langweilte, wechselte sie blitzschnell Inhalt und Tonart, indem sie sich liebevoll nach mir erkundigte. Sie wollte alles und jedes, wie sie sich ausdrückte, über mich erfahren, zeigte volle Anteilnahme. Sie wüsste ja so wenig, was umso tragischer und trauriger für sie sei, weil ich das einzige Kind sei, das sie zur Welt gebracht hätte.
    Ich gab einige Sätze zum Besten, erklärte, dass es mir sehr gut gehe, es mir an nichts mangelte und ich mit meinem Leben zufrieden sei.
    Plötzlich veränderte sich ihr Gesichtsausdruck, um mit spitzen Lippen zu fragen, dann könne sie wohl davon ausgehen, dass ich in besten finanziellen Verhältnissen lebe, ein Umstand, stellte sie begütigend klar, den sie mir als Mutter ja von Herzen gönnen würde. Die umständlich vorgetragene Frage, die ich nur kurz bejahend beantwortete, schien ihre Neugier in hohem Maße zu befriedigen. Triumphierend, so als müsse ich ihr dafür geradezu dankbar sein, rief sie aus:
    >Dann habe ich ja alles richtig gemacht!<
    Als sie mein verdutztes Gesicht wahrnahm, änderte sie sofort wieder die Richtung des Gesprächs. Zuvor aber äußerte sie mit gedämpfter Stimme und niedergeschlagenen Augen:
    >Wie glücklich bin ich, Dich in wohlsituierten Verhältnissen zu wissen. Man sieht es Dir an. Bei mir ist leider das Gegenteil der Fall. Der Schein trügt, aber ich nage buchstäblich am Hungertuch, das ist die Wahrheit, ich schwöre es. Man hat mir sogar mein letztes Erspartes genommen.<
    Ihr Begleiter hatte bereits begütigend begonnen, ihre Haare zu streicheln, als wolle er Ordnung in ihre wilde Mähne bringen. Dabei zischte er immer wieder durch die Lippen und schüttelte anteilnehmend den Kopf. Die Frau setzte von einem Augenblick zum anderen wieder eine neue, nun entspannte Miene auf und kam auf die Adoption zu sprechen, zu der ihr Beruf – sie war Tänzerin, eine erfolgreiche Balletttänzerin, wie sie stolz hervorhob – und ihr Mann, mein Vater, sie zwangen. Eine Entscheidung, unter der sie unendlich, das versichere sie mir, gelitten habe. Und immer noch bereuen würde, mehr denn je. Das war der Augenblick, in dem sie zu weinen anfing, dicke Tränen quollen ihr aus den Augen, was bei mir seine Wirkung nicht verfehlte. Ich stand unter dem Eindruck, dass das Gespräch nun aus dem Ruder laufen würde.
    Ein Blick auf die Uhr machte deutlich, dass wir schon fast eine Stunde zusammensaßen, mein äußerstes Limit. Ich erhob mich:
    >Ich muss gehen.<
    Sie nahm meine zum Gruß ausgestreckte Hand und zog mich auf meinen Sitz zurück:
    >Nur wenn Du mir fest versprichst, mich noch einmal zu sehen. Es gibt noch so unendlich viel zu erzählen. Ich werde einige Tage verreisen, komme aber nächste Woche wieder. Dann treffen wir uns alleine wieder, wir beide allein, ohne Begleitung und auch Du ohne Bodyguard, versprochen?<
    Sie deutete dabei mit ihrer Hand auf Thomas, der immer noch geduldig auf seinem Stuhl hockte und zu uns hinübergrinste. Ich sagte:
    >O.k.!< Das war alles. Wir verabredeten uns am selben Platz. Ein kurzer Händedruck, das war es. Sie hauchte einen angedeuteten Kuss über den Tisch, während ihr wohlbeleibter Begleiter eine kurze, etwas lächerliche Verbeugung vor mir machte. Wie auch immer: Ich verließ nicht ohne aufwallende Gefühle den Raum.
    Aufkeimende Emotionen, Mitleid, Mitleid mit ihr, Mitleid mit mir?
    Alles zusammen? Ich wusste es nicht.
    Die nächsten Tage erlebte ich wie in Trance. Ich war völlig aus der Bahn geworfen. In der Schule saß ich teilnahmslos herum, wurde gefragt, ob ich krank sei, was ich verneinte. Aber im Grunde war ich krank, obwohl ich es mir nicht eingestehen wollte. Glorie sah mich immer wieder besorgt an, griff während des Unterrichts nach meiner Hand und lächelte mir aufmunternd zu.
    Damals begannen die Fragen, die mich viele Jahre nicht loslassen sollten: Wer bin ich? Bin ich nun Lenas Tochter, die mich aufgezogen hat und mit ihrer Liebe umgab, oder bin ich die Tochter jener Frau, die ich an dem Nachmittag in dem Restaurant für eine Stunde getroffen und die mich, wie es offenkundig war, aus purer Eigenliebe weggegeben hatte? Einfach so! Und schlimmer: War

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