Reise zu Lena
ungezwungenen Liebenswürdigkeit: Wunderbar! Warum konnte es nicht überall so sein? Glorie war beglückt. Die Menschen, die wir trafen, waren arm, aber voller Würde. Wir fühlten uns mit jedem Tag besser.
Trotzdem weinte Glorie viel. Aber sie lächelte dabei. Sie sagte, ich sollte mich nicht um ihre Tränen kümmern. Ich glaube, sie führte ein Doppelleben in diesen Tagen, tieftraurig und zugleich voller Freude. Nur einmal meinte sie, fast nebenbei:
>Es ist schwer, das auszuhalten. Ich komme mir vor wie eine Trapezkünstlerin. Nur das Glitzerkleid fehlt mir noch. Ich fliege durch die Luft und habe schreckliche Angst, abzustürzen.<
Dann, eines Morgens, Glorie schlief noch, erreichte uns das Telegramm der Klinik, wo sie noch vor wenigen Monaten festsaß. Der Inhalt:
>Wünschen die Patientin zur Routineuntersuchung bei uns zu sehen. Erfahren nun, dass sie sich in Begleitung auf Kuba aufhält. Wir halten diese Reise für unverantwortlich bei dem labilen Zustand der Patientin und ersuchen sie um sofortige Rückkehr, um mögliche Gefahren zu verhindern.<
Nach den Unterschriften folgte ein Nachsatz:
>Wir erwarten Euch bald. Grüße Ann<
Ich versuchte, Glorie den Inhalt des Telegramms so schonend wie möglich beizubringen. Wie so oft, wenn sie nicht hören wollte, zeigte sie keine Reaktion. Am Abend warf ich das Telegramm in den Papierkorb.
Auf einem Straßenfest lernten wir gleich mehrere Familien kennen, Junge, Alte, alles durcheinander. Wir wurden zu großartigen Essgelagen in winzige Wohnungen eingeladen, die vor lauter Menschen überquollen. Es waren einfache Bootsleute, die wir fragten, wo wir tauchen lernen könnten. Ein Alter wusste Bescheid.
Er meinte, wir sollten zu den nahen Caymans weiterreisen, dort seien die besten Tauchgründe der Karibik und gute Lehrer. Einmal die Woche ginge ein Flugzeug, das wir als Touristen problemlos nehmen könnten. Aber wenn wir möchten, könnte er uns auch bei seiner nächsten Tour in seinem Boot mitnehmen. Was ihn zu den Caymans führte, ließ er offen.
Als wir wenige Tage später in frühmorgendlicher Dunkelheit in einem kleinen abgelegenen Hafen mit unseren Rucksäcken bepackt in sein winziges Fischerboot stiegen, das uns die hundert Meilen über das offene Meer bringen sollte, war uns recht mulmig zu Mute.
Der Fischer lächelte uns vertrauensselig an und beteuerte, die Fahrt schon oft genug riskiert zu haben. Es wäre bislang immer alles gut gegangen. So stachen wir in See, dabei ein kleiner Junge, der die Taue beim Ablegen meisterlich beherrschte und erst in letzter Sekunde mit einem kühnen Sprung in unser wackliges Boot hinübersetzte.
Tatsächlich erwies sich unsere Überfahrt weit harmloser als befürchtet. Das Meer war über weite Teile der Strecke spiegelglatt, bald brannte die Sonne auf uns herunter. Schon um die Mittagszeit legten wir in einer kleinen Bucht auf Cayman Brac an, wo wir voneinander Abschied nahmen. Nach einem längeren Fußweg erreichten wir ein Dorf, wo wir uns ermüdet in einer Pension für die Nacht einmieteten.
Am nächsten Tag fuhren wir auf die einsame Nachbarinsel Little Cayman, wo wir dann endgültig das Tauchen lernten. Nach einer kurzen Woche hielten wir stolz unser Zertifikat in Händen. Wir machten weite Fahrten mit dem Boot des bärtigen Tauchlehrers um die Insel, sprangen dazwischen ins Meer. Ich sah Glorie, wie sie ihn küsste. Dann schlief sie in unserem kleinen Bungalow am Meer mit ihm, einem Australier, der hier die Einsamkeit suchte. Für mich gab es keinen Zweifel: dieser einfache, anrührende Mann hatte sich in Glorie hemmungslos verliebt. Wir lernten von ihm die Angst vor der Tiefe des Meers zu überwinden, kopfüber in die Tiefe mit schweren Sauerstoffflaschen zu stoßen, das , das Ohrenschmerzen vorbeugen half, den Computer zu gebrauchen und die richtigen Handzeichen zu geben. Besonders im Gedächtnis ist mir die gerade durchgezogene Geste mit der flachen Hand unter dem Kinn geblieben, was soviel heißt, wie: Ich bekomme keine Luft mehr! Hinzu kam die lebenserhaltende beim schnellen Aufsteigen aus dreißig oder vierzig Meter Tiefe. Es gab eine unendlich vielfältige Welt in allen Farben schillernder Fische zu bewundern: den Angelfisch, den Butterflyfisch, die Familie der Snapper, den Barsch, nicht zu vergessen den hässlichen, Angst einflößenden Baracuda und den hauchdünnen, langgezogenen Needlefish. Eine wahre Traumwelt!
Glorie schrieb ihre Erlebnisse dort tief unten im Wasser auf
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