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Reise zu Lena

Reise zu Lena

Titel: Reise zu Lena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Neven DuMont
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würde nicht Ihr Problem lösen, sondern nur Ihrer Freundin ihre Hilfe rauben. Darf ich Ihnen also davon abraten? Und warum sind Sie mir gegenüber so kritisch? Sollten wir beide nicht zusammenarbeiten?<
    Aha, dachte ich, jetzt bin ich auch noch seine Komplizin.
    Während der letzten Sätze war sein Gesicht rot angelaufen. Mich überfiel mit Grauen der Gedanke, dass er in mich verliebt sein könnte. Seine Blicke verschlangen mich:
    >Und, Doktor, wie gefallen Ihnen Glories Bilder? Sind Sie überrascht?<
    >Ganz im Gegenteil! Sie entsprechen meinen Erwartungen: Sie sind genial. Aber sie entsprechen ihrer Krankheit. Es sind kranke Bilder. Und da wir sie nicht verstehen, ihren Ursprung nicht auffindbar machen können, sind wir fasziniert und erliegen, ohne uns darüber bewusst zu sein, ihrem Rätsel.<
    Ich starrte ihn für einige Augenblicke fassungslos an, der wie ein großer Schuljunge vor mir stand, dann wandte ich mich langsam ab und verließ ihn ohne ein weiteres Wort.
    Was auch immer geschah, ich musste sie, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ständig begleiten: Sie war nicht mehr in der Lage, so beteuerte sie mir, alleine über die Straße gehen. Es schien ihr unmöglich. Einmal sah ich sie allein an einer Straßenecke warten, sie stand einfach nur da, wartete geduldig. Die Verkehrsampel wechselte von Rot auf Grün und wieder von Rot auf Grün. Bis sie endlich den Mut fand, einen neben ihr stehenden Mann anzusprechen, mit der Bitte, sie wie ein kleines Kind über die Straße zu bringen.
    Mein Studium kam viel zu kurz. Ich wundere mich noch heute, wie ich die Zwischenexamen schaffte, mehr schlecht als recht. Ich lernte buchstäblich im Schlaf, die Bücher unter meinem Kopfkissen. Weil ich aber als fleißige und begabte Studentin galt, kam ich mit den Bewertungen immer gut davon. Glorie und ich, wir waren halt der Vierbeiner, zwei gesunde, zwei kranke Beine, der Gesunde musste für den Kranken da sein. Wenn es darauf ankam, Glorie Huckepack zu nehmen. Wenn ich es wirklich tat, weil sie mir zu müde oder zu langsam erschien, lachten wir aus vollem Halse. Sie war in der Tat keine große Last mehr, Glorie hatte während der Monate in dem Heim außer den Medikamenten so gut wie nichts gegessen. Wenn ich sie umarmte, hatte ich das Gefühl, nicht viel mehr als Haut und Knochen in meinen Armen zu halten. Im Bad allerdings, wenn ich sie ohne Kleider sah, konnte man gut erkennen, dass sie eine junge, bildschöne Frau war, die Erstaunen und Bewunderung erregte. Eine verführerische Frau. Aber der frühere Glanz war verflogen. Dafür hatte sich eine Schicht, ein Fluidum der Entrücktheit auf sie gelegt. Sie bewegte sich so, als wenn sie allein auf der Erde wäre, obwohl sie immer meine Nähe suchte und in den Nächten sich dicht an mich schmiegte.
    Sie behandelte ihre Eltern launisch, reagierte genervt auf ihre Liebe und Fürsorge. Glorie entzog sich mehr und mehr der Nähe von Ann und Albert, vor allem von Ann, die ihre Tochter, oft kopflos, verzweifelt bemüht, alles richtig zu machen, mit einem Zuviel an Mitgefühl überschwemmte. Mitleid war das Letzte, was sie ertragen konnte, und von ihren Eltern schon gar nicht. Einmal sagte sie, als sie die beiden ratlos vor ihrer Wohnungstür stehen gelassen hatte:
    >Sie sind schuld an allem. Sie haben mich geboren. Ich hasse sie.
    Nein, schlimmer noch, ich hasse sie nicht einmal. Sollten wir nicht woanders hinziehen, wo uns niemand mehr findet? In die Berge oder ans Meer.<
    Obwohl ich ständig auf der Hut war, vor einer neuen Krisis zitterte, versuchten wir ein normales Leben zu führen. Ich jedenfalls. Wenn sie sich tagelang nicht aus dem Bett traute, die Decke des Schlafzimmers mit ihrem starren Blick durchbohrte, stand mir der Angstschweiß auf der Stirn: Ging es wieder los? Musste ich wieder die Monster in den weißen Kitteln rufen, den Mann mit der dicken gläsernen Brille? Musste ich sie noch einmal in diesen Kerker zurückbringen, wo sie sich doch sowieso schon tief unten gebettet hatte? Einmal stand sie an der Balustrade unseres Dachgartens, den Oberkörper viel zu weit über das Geländer gelehnt. Ich schrie laut auf, schlug mit der Hand auf meinen Mund, als sie sich gedankenverloren zu mir umdrehte: Dann lächelte sie, wie über einen gelungenen Scherz, und ich fiel feige mit Kichern und Gekrächze in ihr Gelächter ein.
    Wochenlang wollte sie die Wohnung nicht mehr verlassen, kein Telefongespräch mehr entgegennehmen, keine Frage von mir beantworten.

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