Reise zu Lena
sich tiefer und tiefer treiben, ließ meine ausgestreckte Hand allein. An der Felswand vorbei, über sich das Licht der Sonne, das weit in das Meer eingetaucht war, vor sich die Dämmerung, weiter unten die Dunkelheit, endlich die Finsternis.
Die Tiefe zog mich mit hinab, eine unheimliche Lust umfing mich, zu sinken und immer weiter zu sinken. Tiefer, tiefer, zusammen mit ihr, sie nicht zu verlassen, ihr weiter zu folgen, dorthin, wo das Glück ist. Nicht mehr denken, zu träumen, zu schlafen, zu vergessen. Mein Glücksgefühl war grenzenlos.
Ein kräftiger Stoß erschütterte meinen Körper. Eine Faust hatte mich am Rücken gepackt und zerrte mich mit schnellen Stößen nach oben. Mit Gewalt, brutal. George ließ mich erst wieder los, als wir an der Kette unter unserem Boot hingen, um unsere Lungen zu beruhigen, bevor wir auftauchten. Ein letztes Mal stieß er mich und schickte mich nach oben.
Später sprach er kein Wort. Er ließ mich allein die schwere Flasche in das Boot hieven, mit zittrigen Händen und letzter Kraft das Gewicht von meinen Hüften herunterzerren. Ich kroch über den Bootsrand auf die Planken nach vorne wie ein verendendes Tier, den Kopf auf dem Boden, wälzte mich auf den Rücken und starrte mit offenen Augen in die gleißende Sonne und verlor dann das Bewusstsein.
Als wir anlegten, wurde ich wach durch die plötzliche Stille. Das Boot schaukelte leicht, den Bug hochgezogen im Sand. George war verschwunden. Mit ihm unsere Ausrüstung. Selbst die Tanks fehlten. Ich war allein. Ich war allein den Rest des Tages. Als es dunkel wurde, kam George in den Bungalow, legte sich still neben mich aufs Bett. Das war alles. Mitten in der Nacht sagte ich: Danke. Aber da war er schon wieder fort.
Ich war gezwungen, noch drei, vier Tage auf der Insel zu bleiben. Am nächsten Tag erschienen zwei Polizeibeamte mit ihrem Boot aus Cayman Brac und befragten uns stundenlang. George gab Auskunft, wie das Unglück hatte geschehen können, ich hatte nur zu nicken. George riskierte alles, seine Existenz stand auf dem Spiel. Der Vorgang wurde rekonstruiert, ein ums andere Mal. Alles sei sehr schnell vor sich gegangen. Glorie, die als letzte hinter uns geschwommen sei, habe sich, ohne dass wir es bemerken konnten, von uns entfernt, vermutlich die Orientierung verloren. George räumte betroffen ein, nicht rechtzeitig reagiert zu haben. Es ging um wenige Sekunden. Ob ihm so etwas früher schon einmal passiert sei? Niemals! Und er war lange genug dabei. Vielleicht handelte es sich um einen versteckten Materialfehler, eine falsche, eine schwer nachvollziehbare Reaktion der Ertrunkenen. Dann die Frage nach ihrer Gesundheit. Sensibel sei sie gewesen, empfindlich ja, aber doch gesund. So haben wir es ausgesagt, nichts anderes war bekannt. Sehr wahrscheinlich sei ihr die Luft ausgegangen und sie, Glorie, war zu schwach, zu weit entfernt, um Hilfe anzufordern.
Es dauerte endlos, bis alles zu Protokoll genommen war. Aber ein Todesfall ist ein Todesfall. Solche Unfälle gab es glücklicherweise im Taucherparadies so gut wie nie, so hieß es, nur alle paar Jahre, und man machte dies nur ungern publik. Schließlich stand der gute Ruf der Insel auf dem Spiel. George legte seine gute, ja, mustergültige Reputation auf die Waagschale. Er war seit Jahren hier, ein bekannter Tauchlehrer, dem man vertraute, man kannte keinen Besseren. Eine Reihe von Tauchern, die sich ihm anvertraut hatten, wurden befragt. Alle gaben ihm ein hervorragendes Zeugnis. Schließlich mussten wir auf die Polizeistation in Cayman Brac, um unsere Aussage zu unterschreiben, mit unserer Unterschrift das Unglück zu besiegeln. Mit einem amtlichen Dokument, das den Unfall nunmehr ganz offiziell attestierte, , verließen wir die Polizeistation. George und ich wagten nicht, uns in die Augen zu sehen. Wir sprachen auch nie wieder über die größte Lüge unseres Lebens.
Wieder zu Hause, stürzte ich mich in mein Studium, bald hatte ich das Staatsexamen und darauf den Doktor in der Tasche. Im Krankenhaus hielt es mich nicht lange, ich musste fort.
So ging ich nach Afrika, wo ich mit offenen Armen empfangen wurde. Seitdem arbeite ich in medizinischen Zentren, oft unterwegs. Versuche zu helfen, wo es nur geht, behandele eitrige Augen und Ohren, ich versuche, kranke, unterernährte Leben zu retten, Schmerzen zu lindern. Oft genug ein hoffnungsloses Unterfangen.
Einmal kam George zu Besuch. Wegen seiner blonden Haare glaubten alle, die Kollegen und
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