Reise zu Lena
Waldrand ging. Als sie den Wald erreichten, war er neben ihr, sah die Wolken ziehen und die Sonne hervortreten. Ihre Wärme tat ihm gut.
»Ein schöner Tag«, hörte er sich sagen.
»Alle Tage sind hier schön. Ich gebe keine Noten. Es ist gut in der Natur zu sein. Nein, die Stadt mit ihrem Lärm, den vielen Menschen, vermisse ich nicht. Mir geht es viel besser, seitdem ich hier lebe.«
Albert dachte über ihre Worte nach. Er schwieg, als sie in das Halbdunkel eintraten. Sie hörten den Kuckuck rufen, blieben stehen und lauschten wie die Kinder. Das gefiel ihm. Aber am meisten gefiel ihm der Ameisenhaufen, Ameisenhaufen, wie er ihr sagte. Lena widersprach nicht. Sie lächelte. Die beiden sahen auf das Ameisenvolk herab, wie es aus dem hochaufgeschichteten gewaltigen und doch so feingliedrigen Bau herauswuselte, seinen Weg durch das Dickicht, das es umgab, suchte und fand, eine Ameise hinter der anderen, in Kolonne marschierend. Und im Gegenzug andere Ameisen, auch in Reihen, die sich den Weg zurück bahnten. Einige trugen schwere Last, größer als ihre kleinen Leiber, winzige Teile von Tannengrün, die es galt, auf den großen Haufen zu stapeln. Alle Tierchen gleich im Aussehen, mit dem gleichen Auftrag versehen: zu schaffen, zu wirken, Teil eines großen unentwirrbaren Ganzen zu sein. Aber wer gab den Auftrag, wer schickte sie auf den Weg, wer verantwortete diese unendliche Emsigkeit, den Fleiß um einen unsichtbaren Lohn? Und warum? Er fragte sich: Und der Mensch? Was war mit mir? Wer gab mir den Auftrag? Ich, ein kleiner Teil eines unentwirrbaren Ganzen?
Sie hatten auf einer nahen Holzbank Platz genommen, streckten sich gemächlich zurück und atmeten den Duft des Waldes ein.
»Das waren lange Tage. Jetzt brauche ich nichts mehr zu fragen«, sagte Albert.
Lena saß dicht neben ihm:
»Jetzt kannst Du ruhig schlafen. Wie es Dir gefällt.«
Sie lächelten beide, während sie leicht mit ihrer Rechten über seinen Handrücken strich.
III.
Die Bilder flogen fetzengleich vor ihren Augen vorüber. Auf der letzten Strecke hatte Ann »den ganz Schnellen« genommen. Nein, kein Unbehagen stellte sich ein. Angst schon gar nicht. Als das erste Kribbeln in ihren Beinen verstummte, überfiel sie eine ungeahnte Wohligkeit. Sie schwebte, schien allem entrückt. Besser als fliegen, dachte sie.
Ann war froh, dass der Sitz ihr gegenüber unbesetzt blieb. Die Gesichter der Passagiere ihr zugewandt, zeigten sich schläfrig, müde, da und dort sorgenvoll. Keiner lachte. Mag ich Menschen, mag ich sie noch? dachte sie. Es scheint, ich habe mich entfremdet. Die Botschaft der Schwester stand kristallklar vor ihren Augen: Lebe jetzt! Suche! Suche das Glück, bevor es für Dich zu spät ist. Nein, mit diesen Worten hatte es Mary nicht gesagt in den Tagen, die sie noch einmal verbunden hatten, aber es war ihre Botschaft, die sie ausstrahlte. Eine glückliche Zeit, denkt sie. Meine Mary, so lange weit fort, und nun? So nah, so einfühlend, geradezu zärtlich: Eine Schwester! Meine einzige Schwester! Ja, sie hat Mary wiedergefunden, endlich. Als sterbende Frau! Ja, ich habe es verstanden, was sie sagen wollte, was sie mir sagen wollte. Merkwürdig, die tiefe Trauer und daneben dieses gemeinsame Glück. Nicht der Tod ist schrecklich, sondern das Leben. Also verscheuche das Dunkel und stirb nicht vor der Zeit.
Der Zug glitt langsam über die Brücke, der heimische Strom begrüßte sie. Das Münster erschien, die Geschäftshäuser. Dann ein Ruckeln des Zuges, nur ein wenig, Ann hatte sich erhoben, suchte ihr Gepäck zusammen. Dann trat sie auf den Bahnsteig, mit einem Mal unendlich müde nach der langen Fahrt. Zu Hause? Warum war der Bahnhof so verlassen? Sie sah sich um. Niemand war gekommen, um sie abzuholen. Anton hatte sich entschuldigt, er befand sich auf einer Dienstreise. Aber Albert? Sollte er nicht hier sein? Nach dem, was sie hinter sich hatte! Wo war er? Aber richtig doch, wie hätte er können . . . Aber wenn er schon die Kraft aufbringen konnte, für Tage aufs Land zu verschwinden, dann hätte er auch jetzt hier sein können! Der Schock der letzten Tage ist nach wie vor in ihren Gliedern.
Ann durchschritt eilig die Bahnhofshalle, den Koffer hinter sich ziehend. Sie musste nachdenken über ihre Erwartungen. Was will sie? Ja, das ist es: Erwartungen! Hat sie wirklich einen Anspruch auf ihn, hat sie den Anspruch ihn hier und bei sich zu haben? Sie weiß es nicht. Sie weiß, sie hätte sich früher diese Frage stellen
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