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Reise zu Lena

Reise zu Lena

Titel: Reise zu Lena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Neven DuMont
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sollen, nicht erst jetzt: Die tägliche Sorge, Pflege, so vieles, was den Alltag ausmacht und das Eigentliche überdeckt. Man denkt schnell, alles zu wissen, im Griff zu haben, auch den Ehemann. Aber wirklich? Der Tod wirft so viele Fragen auf. Ihr Bild der Schwester. Festgelegt seit Jahren, Jahrzehnten, geprägt schon in der Jugend. Und jetzt: War sie dieselbe? Glich sie dem Bild, das sie so lange, so lange Zeit, für sich festgelegt hatte? Nein! Sicher nicht. Nein.
    Die Luft im Haus erscheint ihr schal. Auch hier: Niemand erwartet sie. Irma ist schon aufgebrochen, eine kurze, sachliche Nachricht liegt auf dem Küchentisch, lieblos. Sie packt aus, rückt manches zurecht, geht für eine Minute in den Garten. Ein heller Tag, der einen schönen Abend ankündigt.
    Später sitzt sie an dem kleinen Schreibtisch oben in ihrem Zimmer. Sie ist überraschend ausgeruht, will keine Zeit verlieren. Vor allem die Gedanken sind klar. Sie möchte es festhalten, jenes Flüchtige aufhalten. Und sie beginnt zu schreiben, aufrecht, den Kopf nur leicht gebeugt:
    »Vater hat mich gelehrt, wenn es hart auf hart kommt, wenn Du nicht mehr weiter weißt, wenn Dich im Spiegel ein Fremder anschaut, Dich zu stellen. Nicht ausweichen. Wenn Du Dir ausweichst, hat er gesagt, verirrst Du Dich. Gott ist immer da, ob Du willst oder nicht. Er stellt Dir die Fragen, Aufgaben wie ein Schullehrer, legt Dir Stolpersteine in den Weg, und er wird Dir Luzifer schicken, den gefallenen Engel, um Dich zu verführen. Es ist an Dir, den Blick Dir nicht nehmen zu lassen, es ist an Dir, nicht auszuweichen, wenn Du gefragt wirst, Verantwortung übernehmen musst und die Zeit zur Erkenntnis da ist. Dann nimm eine Feder und ein gutes Stück Papier und schreibe Deine Beichte nieder. Finde Dich im geschriebenen Wort. Sei aber nicht wohlgefällig! Stelle Deine Liebe zu Dir selbst hintan! Betrachte die Dinge, die Dich angehen, von allen Seiten und vernachlässige Dich dabei. Hörst Du: Von allen Seiten! Sei Dein Richter! Das kann schmerzhaft sein, sehr sogar. Manch Kartenhaus, das Du Dir selbst errichtet hast, wird vielleicht dabei einstürzen. Wenn Du am niedergeschlagensten bist, bist Du der Wahrheit am nächsten. Die Wahrheit gibt es nicht gratis. Aber Du gibst ihr eine Chance. Schreibe Deine Finger wund, bis Du zum Kern der Selbsterkenntnis vorgestoßen bist, selbst wenn Tage darüber vergehen, Wochen, Monate, Du alt geworden bist. Warum hat der Vater nicht gesagt: Befreie Dich! Das war Mary, meine Schwester, die das sagte: Befreie Dich!
    Mein Vater war ein starker Mann, mein Führer, geliebt und gefürchtet zugleich. Niemand kam ihm gleich, mein ganzes Leben nicht. Die Wahrhaftigkeit war sein Leitstern, nichts ging darüber. Nicht die Wahrhaftigkeit den Menschen, sondern Gott gegenüber, obwohl er kein Mann der Kirche war. Trotzdem lag die Bibel auf seinem Nachttisch. Die Verpflichtung, die Vater mir auf den Weg gab, machte mir das Leben nicht leicht. Oft erntete ich Abneigung, Hohn und Spott von meinen Mitschülern, von meiner Schwester, als sie gegen ihn aufbegehrte, von den Männern, die ich als junge Frau traf. Nur Albert war anders. Ich musste lernen, dass alles seinen Preis hat. Dass Du für Deine Überzeugung, Deinen Glauben zahlen musst. Manche verzagen, manche verraten sich. Ich kann nicht umhin, diese Menschen zu verachten. Und ich tue mich schwer, es ihnen nicht zu zeigen. Aber Zweifel taten sich auf. Ich verfluchte heimlich meinen Vater, wenn ich alleine mit heißen Gliedern in meinem Bett lag. Ich verfluchte ihn, um mich dann selbst zu verachten.
    Mary ist tot. Ich habe ihr bis zuletzt die Hand gehalten, meiner jungen Schwester, dieser lebenslustigen Frau, die nun von mir gegangen ist. Mit ihr stirbt meine Kindheit, meine Jugend: Was besaßen wir nicht alles zusammen! Das erste Weihnachtsfest, an das ich mich erinnern kann: Sie lag in der Wiege und Mutter meinte: Das ist unser Christkind. War ich da nicht eifersüchtig auf sie? Oder später, wenn wir bei der Kirschernte zusammen auf dem Baum saßen und uns den Bauch vollschlugen. Die Kindergeburtstage mit den Freundinnen aus der Nachbarschaft. Oder wenn wir abends in die Betten der anderen krochen, um zu kuscheln und uns unter der Bettdecke Geschichten zu erzählen, heimlich, damit die Eltern nichts mitbekamen. Wichtige Mitteilungen und Geheimnisse wurden ausgetauscht: Wie lange schon sind sie vergessen! Später verliefen sich die Wege und das Trennende machte dem Gemeinsamen Platz. Kritik kam auf über

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