Reise zu Lena
übelgenommen hat? Nach einer solchen Nacht, so überraschend, so überfallartig ihr Verschwinden! Vielleicht rächt er sich und ist in die Stadt zurückgefahren, mit dem Taxi oder sonst wie. Seine Sachen hängen noch im Schrank. Aber was hat das zu sagen! Es ist schwer, sich in das Denken eines Mannes hineinzufinden.
Sie ruft mit lauter Stimme nach ihm. Immer wieder. Dann lässt sie sich mutlos auf die Bank vor dem Haus fallen und fängt an zu weinen. Ja, sie erhebt ihre einsame Stimme, beklagt sich, bemitleidet sich, jammert, bis ihr die Tränen kommen. Hat sie ihn verloren? Während sie beim Treffen mit Ann eine untadelige Figur abgegeben hat, sind ihr, der scheinbar Überlegenen, die Felle davon geschwommen. Eine Falle . . . Sie weidet sich in ihrer Trauer um den Geliebten. Mit einem Mal hört sie ihn, ganz nahe, vertraut, freundlich, ja, liebevoll:
»Wie schön, Dich zu hören! Ich glaube, da liebt mich jemand, vermisst mich jemand.«
Verdutzt sieht sie sich um, nach rechts und links, sieht nichts, schaut endlich nach oben. Ganz in der Nähe sitzt er in dem großen alten Apfelbaum, der Koryphäe ihres Gartens, seinen Strohhut auf dem Kopf. Gleich oberhalb des Stammes, wo die Äste sich gabeln, hockt Albert, der alte Mann, und biegt sich vor Lachen:
»Ich wollte nur ausprobieren, ob ich auf meine alten Tage noch auf einen so verfluchten Apfelbaum steigen kann, ohne mir das Genick zu brechen. Und außerdem wollte ich Dich überraschen, so wie Du mich überrascht hast. Offenbar ist das wunderbar gelungen.«
Sie ist aufgesprungen:
»Oh, Gott, Du alter Narr! Steigst einfach in den Baum! Aber bleib ruhig sitzen, bitteschön, mir soll es recht sein!«
»Ich danke für Dein Verständnis! Nichts Schöneres, als von einer verliebten Frau in die Freiheit entlassen zu werden. Es geht nach oben!«
»Gut, gut, ich werfe Dir später eine Decke hinauf, wenn es kühler wird. Äpfel hast Du ja dort genug. Genieße die gute Luft, während ich mir ein paar Kartoffeln brate mit Spiegeleiern dazu.«
»Schon gut, Deine Güte ist unübertrefflich! Was kann ich mir Besseres wünschen.«
Seine Rede wird immer wieder von schallendem Gelächter unterbrochen.
»Herrlich, so eine Nacht direkt unter den Sternen! Ich beneide Dich, Jungchen. Wie alt bist Du? Zwölf oder dreizehn?«
»Lass mich zählen . . . Soweit sind wir in der Schule noch gar nicht. Obwohl, obwohl . . .«
»Obwohl was?«
»Obwohl ein kleiner Junge auch nicht mehr.«
»Ich weiß, ich weiß.« Jetzt kichert sie.
»Aber ein zu alter Junge auch wieder nicht.«
»Ich weiß, ich weiß . . .«
Er beugt seinen Kopf weit zu ihr hinunter, indem er sich mit seinen beiden Händen an zwei Ästen festhält:
»Woher weißt Du denn das, was Du weißt?«
»Also . . ., also . . .«
»Was: Also?!«
»Sei nicht so neugierig, du alter Narr!«
Sie steht hoch aufgerichtet vor dem Apfelbaum, die Arme in ihre Hüften gestemmt, Albert nur zwei, drei Meter über ihr, und schimpft nach oben. Er trompetet:
»Und Mädchen sind dumm!«
»Richtig, aber . . .«
»Aber sie haben etwas, was wir nicht haben.«
Sie öffnet die Brosche oben an ihrer Bluse, ihr Kragen fällt zur Seite und gibt einen Blick auf ihre Brüste frei:
»Ich gehe jetzt hinein ins Haus und ruhe mich ein wenig aus. Ein Mittagsschläfchen ist gerade recht. Mit einem alten Mann im Baum, welch ein beruhigender Gedanke!«
»Ruhe gut, altes Mädchen! Der Anblick auf Dich, Du Schönste, von hier oben ist mir genug. Ich hüte hier Deinen Schlaf. Aber bleib mir treu!«
»Ich lege mich in Dein Bett. Vielleicht riecht es noch von der letzten Nacht.«
Seine Stimme schrillt von oben:
»Gut, gut, Du hast gewonnen! Jetzt hilf mir herunter!« Als er wohlbehalten seinen Fuß wieder auf die Erde setzt, nimmt er sie in die Arme:
»Lenchen, Du siehst zu sehr auf den Boden! Du musst Deinen Blick gelegentlich nach oben lenken. Was siehst Du dann? Mich!«
Am Nachmittag übt er »Fliegen«. Ein herrlicher Sommertag, die Sonne brennt geradezu herunter, Albert ist mit der Leiter auf das Dach hinauf geklettert, hält ein großes buntes Badetuch in beiden Händen über sich:
»Es fehlen die Aufwinde! Mit kräftigem Aufwind kann ich ohne Weiteres einige Meter schaffen.«
»Bist Du jetzt völlig verrückt geworden?« wettert sie von unten, »nichts wirst Du schaffen! Höchstens Dir einen Fuß brechen.«
»Was weißt denn Du? Ein Sprung vom niedrigsten Dach aller Zeiten! Komm in meine Arme, Lenchen!«
Er hat oben, so gut es ging,
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