Reise zu Lena
mehr und so deutlich vor Augen, dass sein Mund nicht zu schweigen vermag:
»Ich lebe! Lebe! Lebe!«
Während Albert in diese Worte ausbricht, hat Lena mit ihrem alten, klapprigen Ford, den sie, die ungeübte Fahrerin, mit großer Konzentration lenkt, die Stadt erreicht. Eine gute halbe Stunde braucht sie für diese knapp zwanzig Kilometer, für manchen eiligen Autofahrer durchaus ein ärgerliches Hindernis auf freier Strecke. Lena hält auf einem freien Parkplatz, den sie mit Erleichterung zur Kenntnis genommen hat, neben einem glänzenden Mercedes, dem gleich gegenüber. Noch auf dem Fahrersitz kämmt sie sich sorgfältig das wild herunterhängende Haar und zeichnet mit einem Lippenstift die Linien des Mundes nach, überprüft den Sitz ihrer Brosche, die die Seidenbluse unterhalb des Halses zusammenhält. Dann kontrolliert sie aufmerksam das Ergebnis in dem kleinen heruntergeklappten Spiegel. Sie lässt sich Zeit. Ihr ist nicht an Eile gelegen. Sie hat nichts zu verlieren. Die vergangene Nacht scheint ihr der Höhepunkt ihrer letzten Jahre, vielleicht der ihres ganzen Lebens! Diese Nacht vermag ihr niemand zu nehmen, auch Ann nicht, die vielleicht schon ungeduldig im Hotel auf sie wartet. Diese Nacht gehört ihr, unwiderruflich und für immer. Sie kann sitzen bleiben und auf der Stelle umdrehen, um zu Hause Albert zu umarmen. Aber sie, die Reiche, die Beschenkte, ist so sehr des Glückes voll, dass sie sich nicht im Geringsten etwas vergibt, wenn sie sich jetzt erhebt, aus dem Wagen aussteigt, die Straße überquert, in das Hotel gegenüber eintritt, sich nach Ann erkundigt, um dann, ihr ruhig und gelassen in die Augen blickend, die Hand entgegenzustrecken. Es ist zehn Minuten nach der vereinbarten Zeit: Gerade recht! Nur eines muss sie vermeiden: Sie darf nicht, auf keinen Fall, ihr Glück ihr zeigen. Jede Freude, ja, das kleinste Lächeln, ein unbedachtes Augenzwinkern, muss aus ihrem Gesicht verbannt werden. Sie ist gezwungen, für die Zeit, während sie mit Ann zusammensitzt, unabhängig vom Gesprächsverlauf, dieselbe Lena vorzuführen, die sie immer dargestellt hat, seit ihren frühen Jahren. Sie muss, wenigstens für die nächste Stunde, die letzte Nacht aus ihrem Gedächtnis löschen, um sie anschließend, auf ihrem Rückweg zu Albert, umso heftiger wieder aufleben zu lassen. Ein letzter prüfender Blick in das Gesicht der Frau, die sie in dem kleinen Spiegel entdeckt, und sie erhebt sich langsam, nachdem sie die Tür des Autos geöffnet hat.
Sie verschließt den Wagen, der ihr schon seit langen Jahren Dienste tut und sie nie im Stich gelassen hat. Bald nach Jakobs Tod hat sie sich langwierigen Fahrstunden unterzogen und ist mit dem liebgewordenen Gefährt in die Jahre gekommen. Sie ist mit ihm aus der Stadt hier heraus gezogen. Das sind ihre Gedanken, als sie nach links und rechts schauend die Landstraße überquert.
Die Frau, die aufrecht in der kleinen Halle des kleinen Landhotels steht, ist zweifelsohne Ann. So hat sie Alberts Frau, Glories Mutter, von den wenigen und kurzen Begegnungen aus früheren Jahren in Erinnerung. Ann ist gealtert, denkt sie. Aber der Ausdruck ihres Gesichts ist anders, als sie erwartete: weniger hart, freundlicher, bescheidener, trauriger als vermutet. Wo ist die unbeugsame Herrscherin, die ich erwartete, fragt sich Lena. Sieht sie nicht doch jünger aus? Sie sieht jünger aus als ich, aber ist sie glücklich? Gut, sie hat ihre Schwester verloren, vor wenigen Tagen erst. Deshalb das Schwarz ihrer Kleidung, das ihr hervorragend steht. Und dann, nicht zu vergessen, sie hat einen schweren Gang vor sich: Ihr Mann! Albert ist ihr verloren gegangen. Und Albert ist bei ihr, Lena, zu Hause. Und sie hat mit ihm die Nacht verbracht, Seite an Seite im Bett gelegen, in seinen Armen und er mit verrutschter Pyjamahose zerknäult zwischen den Beinen.
Ihre Begrüßung ist förmlich, geradezu offiziell. Beide haben sich elegant gekleidet, wie auf Verabredung hin. Nein, dies ist keine alltägliche Verabredung, vielmehr eine Begegnung, die im Kern eine Verhandlung in sich birgt. Darüber sind sich die beiden nur allzu sehr bewusst. Es geht schließlich um einen Mann, um Mann, der zu der Zeit in Lenas Küche sitzt und ahnungslos und unschuldig ein Marmeladenbrot zum Mund führt. Jetzt nur keinen Fehler machen, sich nicht in die Karten schauen lassen! Das sind die Gedanken der beiden, von Ann, der großen, schlanken Aufrechten, und von der kleineren, etwas fülligeren
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