Reise zu Lena
Lena.
»Ich möchte mich zuerst bei Ihnen bedanken, dass Sie auf meinen Telefonanruf hin gekommen sind. Ich darf doch zu Ihnen sagen?«
Es ist Ann, die das Gespräch eröffnet. Sie haben an einem kleinen Tisch am Rande der Halle Platz genommen und einen Tee bei einem Hausmädchen bestellt.
»Gerne«, beeilt sich Lena zu antworten, »wir kennen uns ja schon lange genug. Und uns verbindet so viel über die Jahre.«
»Richtig, es sind Jahrzehnte, aber es hat sich nicht ergeben . . .«
». . . dass wir uns näher kennen gelernt haben. Im Gegenteil, ich glaube, wir kamen nur zwei, drei Mal zusammen, wenn ich mich recht erinnere, und auch das ist lange genug her.«
Ann faltet die Hände:
»Mein Gott, wir waren so sehr mit uns selbst beschäftigt, wenigstens Albert und ich. Es waren die Sorgen um Glorie, die nicht nachließen. Und Ihre Tochter Christie war uns eine große Hilfe, eine Hilfe, die Glorie ganz für sich in Anspruch nahm. Ich glaube, wir verhielten uns Ihnen gegenüber, Lena, ein wenig achtlos, nicht aufmerksam genug. Ich bedauere das heute sehr. Zugegeben, recht spät.«
»Wir leben in verschiedenen Kreisen.«
Ann mustert ihr Gegenüber aufmerksam: eine Falle? Sie muss vorsichtig sein:
»Wir teilten unsere beiden Töchter. Dafür möchte ich mich noch einmal bedanken. Mehr als es in Worten möglich ist. Bedauerlich, dass später die Wege auseinander führten, sehr schmerzhaft für uns, Albert und mich.«
Lena sagt nichts. Sie sieht an Ann vorbei, schlürft langsam, aufreizend langsam aus ihrer Tasse, als wolle sie Ann auflaufen lassen. Und tatsächlich: Anns mühsame Beherrschung schmilzt sichtlich dahin:
»Es war für uns alles viel schmerzhafter, als sich ein Außenstehender das vorstellen kann. Glories Zustand verschlimmerte sich damals tagtäglich. Die Aufenthalte in der Anstalt waren für uns die Hölle, ich sage: die Hölle! Für einen Fremden ist es unmöglich, das nachzuempfinden.«
»Ich war keine Fremde.«
»Ja, sicherlich nicht! Ja, und dann diese Reisen der beiden! Die Unvernunft, der Leichtsinn! Gegen den Rat der Ärzte! Ich denke manchmal, dass wir Glorie hätten retten können, wenn beide, sie und Christie, sich uns nicht derart entzogen hätten.«
Ann bricht in Tränen aus, sucht mit hastigen Griffen ein Taschentuch in ihrer Handtasche, um ihr Gesicht abzuwischen.
Lena hat sich erhoben, ruhig und gefasst, wie es ihre Art ist, tritt sie zu Ann, legt ihr die Hand auf die Schulter:
»Sorgen Sie sich nicht: Gott hat es so gewollt. Und: Ich mochte Sie nicht gleich damit überfallen: Mein großes Beileid zu dem Tod Ihrer Schwester. Das muss Ihnen sehr zu Herzen gegangen sein.«
Ann steht wie auf Zuruf auf: Wieso geht ihr diese Frau so nahe! Wie schafft Lena es, sie mit nur wenigen Worten so aufzuwühlen? Ann lässt die flüchtige Umarmung der anderen über sich ergehen, bevor sie wieder Platz nehmen.
Lena zieht ihren Rock zurecht:
»Ich bin keine Außenstehende!«
Ann fährt ihr fast ins Wort:
»Wer hat das behauptet? Das habe ich so nicht gemeint, niemals!« Wie unbeherrscht ich bin, fährt es ihr durch den Kopf. Jeden Brocken, den sie mir hinwirft, schnappe ich hilflos auf. Warum habe ich nicht geschwiegen?
Lena hat sich noch einen Obstsaft bestellt, den sie mit offensichtlichem Genuss trinkt. Sie scheint sich wohl zu fühlen.
»Entschuldigen Sie, Ann, dass ich nicht zu Ihnen in die Stadt gekommen bin. Ich hätte Sie gerne besucht, um bei der Gelegenheit Ihr Haus besser kennen zu lernen. Christie hat mir so viel von Ihrem Zuhause erzählt, wie schön es ist. Aber die Verbindungen mit öffentlichen Verkehrsmitteln hier auf dem Land sind so schlecht, dass man auf sein Auto angewiesen ist. Ehrlich gesagt, bin ich eine ziemlich hoffnungslose Fahrerin. Mein Mann wollte mir damals partout nicht erlauben, den Führerschein zu machen. Er traute mir nichts zu. Ich habe erst spät fahren gelernt und bin glücklich, mit meinem alten Gefährt heil um die nächste Ecke zu kommen.«
Zu Lenas Überraschung dringen musikalische Klänge aus Anns Handtasche, wie es sich herausstellt ihr Handy. Ann drückt auf eine Taste:
»Ja, bitte? Ach, Du bist es, Anton! Ich dachte es mir schon. Ja, mir geht es gut. Wie sollte es mir sonst ergehen, ich bitte Dich! Hier draußen auf dem Land gefällt es mir. Ich sagte Dir schon, mir geht es sehr gut. Sorgen? Ich bitte Dich! Ja, bitte mach Dir keine Sorgen. Vielleicht sehen wir uns heute Abend. Bis dahin! Ja, Anton . . . Anton!«
Das kurze Telefonat
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