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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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als zwei zusätzliche Auslandssemester angerechnet! – Ich unterrichtete deutsche Konversation am Lycée Pasteur in Neuilly, das der Nobelvorort von Paris war. Ich fuhr eine Dreiviertelstunde Metro, zurück nochmals so viel. In meiner Klasse saßen die – fast schon erwachsenen – Kinder der Reichen und Mächtigen Frankreichs. Junge Damen in maßgeschneiderten Tailleurs und Jünglinge mit weißen Hemden und Hosen mit Bügelfalten, die aufstanden, wenn ich in den Klassenraum trat, und sich setzten, nachdem ich ihnen zugenickt hatte. Alle hatten die Köpfe voller Gedanken, für die sich mir das Wort faschistisch aufdrängte. Sie glühten für die Ideen ihrer Väter, die Industrielle, Advokaten, Ministerialbeamte oder Generäle waren. Kann sein, dass die eine oder der a ndere etwas leiser als die Wortführer waren: Ich wurde jedenfalls mit dem Denken und Fühlen des rechtskonservativen Frankreich nur so überschwemmt, und vor allem mit dem der OAS , der Organisation de l’Armée secrète, die inzwischen nicht mehr besonders geheim war. Meine Kinder hatten jedenfalls einen direkten Draht zu ihr, dank Papi und Mami. Ihr Aktionsfeld hatte sich von Algerien nach Frankreich verschoben und sollte die neue Algerienpolitik de Gaulles, den sie einmal für einen der Ihren gehalten hatten und der jetzt eine Algérie algérienne propagierte, zu Fall bringen. Ein Putsch in Algerien war schon schiefgegangen; jetzt versuchten sie es mit Gewalt im Mutterland. Mit Mord. Terror pour la bonne cause. Der Chef der OAS , den meine Schulkinder grenzenlos bewunderten, war der General Salan, der allerdings nicht in Neuilly, sondern im Untergrund lebte. Also vielleicht doch in Neuilly. Es war eine äußerst unruhige Zeit. Schier jeden Tag ging irgendwo eine Bombe hoch. In Kaufhäusern, Bahnhöfen, Postämtern. Auch ich hörte es knallen und schlurfte durch die Scherben zersplitterter Schaufenster, war aber seltsam unbesorgt: als ob es einen wie mich schon nicht erwischen würde. (Nora, die für ein paar Monate ein Zimmer in meiner Nähe hatte und einen Stage bei einer psychoanalytischen Koryphäe namens Diatkine machte, war einmal so nah am Explosionsort, dass sie von der Druckluft oder vom Schreck umgeworfen wurde.) Plastiquer, so nannte man das Bombenlegen, weil der Sprengstoff eine leicht zu manipulierende Plastikmasse war. Die Knetmasse zu einem Ball formen, Zünder rein, und peng. Mehrmals war das Lycée Pasteur, wenn ich bei ihm anlangte, wegen einer Bombendrohung geräumt worden (wieso drohte die OAS ihren heißesten Fans? Waren es nicht eher die Schüler selber, die schulfrei haben wollten?), und ich zog hochbefriedigt wieder ab, von der Last einer Unterrichtsstunde befreit. Ich musste mich an dem Tag nicht mit meinen Zöglingen streiten, denn das tat ich in jeder Stunde, und erst noch auf Deutsch. Die Mädchen und Buben, die alle längst wussten, wie man das Dekolleté zur Geltung brachte, mit den Augenlidern klapperte oder eine tiefe Stimme dröhnen ließ, vertraten, ebenfalls auf Deutsch, mit glühendem Enthusiasmus die Ideen ihrer Eltern ( Algérie française beziehungsweise De Gaulle au poteau ), und ich setzte ihren Argumenten meine demokratischen Erfahrungen zuweilen so hitzig entgegen, dass ich in mein Schweizerdeutsch zurückfiel und wie einer der Helden vom Rütli klang. Die jungen Damen und die Jünglinge verstanden mich dann nicht mehr, waren aber trotzdem dagegen. Einmal lud mich einer der Jungmänner so formvollendet zu einem Theaterbesuch ein, dass ich die Einladung annahm. Ein Theater an der rive droite, das eine Boulevard-Kiste gab, in der ein Schauspieler – es war wohl Robert Lamoureux – so virtuos eine lange Treppe hinunterkugelte, dass er einen langen Szenenapplaus erhielt. Auch ich klatschte. Nachher, bei einigen Gläsern Bier, missionierte mich der Schüler regelrecht. Er hatte die Augen eines fanatischen Kinds und bezahlte dann auch noch die ganze Zeche. – Als de Gaulle in Petit-Clamart wie durch ein Wunder (ein Wunder Gottes, so empfand es das katholische Frankreich) von keiner der paar hundert Kugeln getroffen wurde, die seinen Citroën DS durchlöcherten, obwohl er aufrecht wie eine Statue im Fond seines Wagens sitzen blieb, hatten die Ferien Gott sei Dank schon begonnen; gewiss bedauerten die jugendlichen Zicken und Schnösel meiner Klasse den Ausgang des Attentats, und darüber hätten wir wohl nicht mehr, auf Deutsch!, diskutieren können. – Praktisch jeden Tag fanden jetzt Großdemonstrationen

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