Reise zum Rand des Universums (German Edition)
Jahre vor mir, im Quartier Latin gewohnt hatte, in der Rue du Bac. Da hatte er die Kästen der bouquinistes leergekauft und eine Frau gekannt. Wie gut und wie lange, das weiß ich nicht. Er begleitete sie jedenfalls einmal an die Gare de Montparnasse – sie wollte, ganz ohne ihn, in den heiteren Süden fahren – und sprang, als der Zug anrollte, in einem jähen Entschluss aufs Trittbrett und zu ihr ins Abteil hinein. Er fuhr mit ihr bis Marseille, und sein leuchtendes Gesicht sagte mir, dass sich seine Verwegenheit gelohnt hatte. (Er sprach sonst nie von Liebesdingen; seinen eigenen gar. Er schien, von der Dame in Paris einmal abgesehen, vor Anita keine Frauen gekannt zu haben. Nur einmal, als ich im Stimmbruchalter war, sagte er zu mir: »Weißt du, das mit den Frauen überschätzt man.«)
Paris war, auch ganz ohne Väter, die Stadt überhaupt, der Ursprung und das Ziel von allem. Die Scheinwerfer des Zeitgeists hatten noch nicht begonnen, London oder gar New York anzustrahlen. Basel war ein Kaff, in dem nichts Außerordentliches entstehen konnte. Ich ging wie auf Wolken, als ich mit meinem Koffer in der Hand aus der Gare de l’Est trat. Ich atmete die Luft der ville lumière ! Ihre Vergangenheit, ihre Gegenwart, und ich war Teil ihrer Zukunft! Die Boulevards mit ihren Gründerzeithäusern, die noch nicht saubergewaschen waren und jenes Grau ausmachten, das es nur in Paris gab! Als ob Corot oder Monet es gemalt hätten! Die Metro, wie sie roch! Die Clochards, die sich auf den Entlüftungsschächten wärmten! Die Cafés! Die Zeitungsverkäufer, die ihre Zeitungen im Laufschritt verkauften und weiterhin »Le Monde« oder »France Soir« riefen, während sie mir das Wechselgeld in die Hand zählten. Die Seine, die Quais, und natürlich Notre-Dame. Les Halles, auch ich aß um 3 Uhr nachts meine Zwiebelsuppe und sah zu, wie Männer mit Schweinehälften überm Rücken vorbeikeuchten. Die Buchhandlungen, eine neben der andern. Sogar der Eiffelturm, auch wenn ich ihn nie bestieg. Die Kinos. (Schon damals, sechs oder sieben Jahre vor 1968, riefen die Zuschauer, wenn eine hübsche Frau allein nach ihrem Platz suchte: »À poil!« Es war wohl unangenehm für die Frau, gewiss war es das; aber noch schlimmer war, wenn sie bis zu ihrem Platz gelangte, ohne dass einer rief.) Montmartre, obwohl mir das damals schon wie eine tourist trap vorkam. Der Louvre, in dem die Bilder noch in drei Reihen übereinanderhingen. Die Orangerie. Der Père Lachaise, auf dem ich vor dem Grab von Jacques Prévert stand und vergeblich das von Boris Vian suchte. (Oder umgekehrt.) Das Panthéon, an dem ich jeden Tag vorbeiging und in dem möglicherweise tatsächlich Napoleons Gebeine lagen; von mir aus. Aura, Aura. Du gingst um eine Ecke und pralltest in Beckett oder Giacometti. Nicht dass mir das geschehen wäre; aber es hätte sein können. Ionesco sah ich tatsächlich einmal – im ›Flore‹, in das ich sonst nie ging –, und Sartre und Simone de Beauvoir saßen in der ›Coupole‹ am Nebentisch, allerdings in meinem Rücken, so dass ich erst draußen auf dem Trottoir draufkam, was ich eben verpasst hatte, weil die Freunde dieses Abends plötzlich aufgeregt schnatterten und sogar einige Gesprächsfetzen gehört hatten. Ich war zu stolz, nochmals ins Lokal zu gehen.
Die Aura der Stadt war so kräftig, dass sie mich über anderthalb Jahre hinweg trug. Ich fühlte mich am richtigen Ort und vom Schicksal ausgezeichnet. Dabei verbrachte ich jene Zeit, nüchtern betrachtet, ziemlich einsam. Ich lernte gewiss den einen oder die andere kennen, hatte auch, manchmal einen ganzen Abend lang, flotte Gespräche: und es gelang mir nie, die möglichen Freunde oder Freundinnen so festzuhalten, dass ich sie ein zweites Mal treffen konnte. Mag ja sein, dass es an mir lag. Aber alle Einheimischen fegten so selbstgewiss auf ihren Umlaufbahnen, dass es eines Planeten von anderer Kraft als meiner bedurft hätte, sie vom Kurs abzubringen. Sie waren freundlich, höflich, liebenswürdig, heiter gar: Schon im Weitergehen hatten sie mich vergessen. Ich ging gern zum Zahnarzt, weil ich da einen hatte, mit dem ich, und sei’s mit dem Bohrer im Maul, ein paar Worte wechseln konnte. Auch stahl ich meinem Vater bei meinen Kurzbesuchen in Basel jeweils ein paar Valium-Tabletten (oder war das noch die Librium-Zeit?), die ich dann sorgsam verwahrte und nur in wirklichen Notfällen einsetzte (Herzrasen, just bevor ich zu meiner Arbeit aufbrechen musste).
Natürlich zog es
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