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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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Ich hatte ja auch einen krummen Rücken und hätte als Bub einen therapeutischen Gymnastikkurs besuchen sollen, den alle – meine Mitschüler, aber auch mein Vater – das Buckeliturnen nannten, so dass ich mich weigerte, das zu tun, was mir gewiss gutgetan hätte. Tatsächlich taten mir schon mit zwanzig Jahren der Nacken und das Kreuz weh. Oft, mehr oder weniger immer. Ein Arzt diagnostizierte einen Scheuermann, den andere Ärzte später nicht mehr fanden. Aber ich lebte lange in der Vorstellung, ein Scheuermann zu sein: einer, dessen Wirbel allmählich zerscheuert wurden, so lange, bis das Rückgrat, das mich jetzt noch aufrecht hielt, in sich zusammenfallen würde, zu Staub geworden. Vielleicht beförderte ich das allmähliche und unausweichliche Zerbröseln aller Wirbel mit meinem Knallen, weil es befriedigender ist, etwas selber zu tun als es zu erleiden. (Dass Scheuermann der Name des Wissenschaftlers war, der die Krankheit zum ersten Mal benannt hatte, erfuhr ich bald; es änderte nichts an meinen magischen Vorstellungen.) Ich ging zu den meisten Ärzten Basels und ein, zwei Male auch zu einem Chiropraktiker. Wenn er, weit wirkungsvoller, mit meinem Hals tat, was ich selber mehrmals pro Minute versuchte, erschreckte es mich und kam mir wie die reine Gewalt vor. – Zuweilen ließ ich meinen Rücken massieren. Eine strenge Holländerin; eine robuste Frau aus Maisprach; am liebsten war mir ein blinder Therapeut, ein Ungar vielleicht, der sich in seiner Praxis wie ein Sehender bewegte, wie ein Seher, und meine Ängste kundig wegzumassieren wusste. Am Ende jeder Behandlung gab er mir einen Klaps auf die Hinterbacken, der eine Spur zu kräftig ausfiel; als ob er, nach seiner sanften Arbeit, zeigen wollte, dass er auch anders gekonnt hätte.
    Ich bin geneigt, auch das Asthma als einen meiner Ticks zu begreifen. Wenn es ein Tick ist, dann ist es der einzige, der es schaffte, mit mir zusammen die Schwelle zwischen der Kinder- und der Erwachsenenzeit zu überschreiten. Denn ich hatte als Kind – gerade als Kind! – heftige Anfälle von Atemnot, immer wieder. Sie begannen mit einem Kratzen in der Lunge, tief unten noch und fern, eine ganze Weile nicht mehr als eine Drohung, eine Warnung, eine Möglichkeit. Ein tastender Atemzug nach dem andern. Kann sein, dass das Kratzen zuweilen abklang, und ich wieder frei atmen konnte. Ohne dass der Anfall tatsächlich stattgefunden hatte. Oft aber wurde das Kratzen zur wirklichen Not. Ich glaubte zu ersticken, oder eher noch, ich fühlte, dass Herz und Hirn diesem Druck nicht mehr standhalten konnten. Dieser Überlebensanstrengung, die meinen Schädel blau werden ließ und mich in Schweiß badete. Ich hatte bald einmal ein Medikament (Asmac), das ich wie einen magischen Abwehrzauber immer in der Hosentasche mit mir trug – die Sprays von heute existierten noch nicht – und das oft doch nicht half. Wie oft saß ich keuchend auf dem Bett oder, wenn ich unterwegs war, auf dem Klappsitz einer U-Bahn oder auf einer Parkbank.
    Einmal – ich war längst kein Kind mehr – keuchte ich im Arbeitszimmer meines Vaters um mein Leben, und der sah mir so lange betreten und ratlos zu, dass ich ihn – ganz ohne Luft – anschrie, er solle nicht so glotzen, ob er denn nicht sähe, dass ich einen Arzt bräuchte. Von allein wäre er nicht auf die Idee gekommen. Er suchte nach der Nummer als habe er zum ersten Mal ein Telefonbuch in der Hand. »Bloch«, keuchte ich. »Dein Arzt heißt Bloch.« Doktor Bloch kam und gab mir eine Spritze, und mit der Zeit kriegte ich neue Luft. – Jetzt, während ich dies schreibe, spüre ich fern, ganz fern, das bekannte Kratzen in der Lunge, das das allererste Anzeichen war. – Meinen letzten Anfall hatte ich mit dreißig Jahren, einunddreißig, just auf der Aussichtsterrasse des Empire State Building in New York. Ulla Rowohlt schaute mir ähnlich betreten wie damals mein Vater zu, wie ich dahockte und keuchte. Sie holte keinen Arzt, auch sie nicht, und ich beruhigte mich von selber. Es war der fürchterlichste Anfall von allen, und er war der letzte.
    PARIS 1961   –   1962. Ich fuhr nach Paris, weil einer wie ich in Paris leben musste , auch wenn ich noch kaum ahnte, was für einer ich denn war oder werden könnte. Aber dass Paris zu meinem Lebensentwurf gehörte, war mir klar. Das war in mich eingegraben, das war eine kollektive Sehnsucht, an der ich begeistert teilnahm. Vielleicht auch zog es mich so heftig nach Paris, weil schon mein Vater, dreißig

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