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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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statt, den Boulevard Saint-Michel hinauf und hinunter, dem Boulevard Saint-Germain entlang. Ich nahm teil, ich nahm nicht teil. Ich ging am Rande mit wie einer, der erregt war, aber nicht dazugehörte. Immerhin lernte ich in diesen bewegten Tagen, dass Politik nicht etwas war, von dem ich in der Zeitung las, sondern etwas, von dem die Art meines Lebens abhing, und manchmal das Leben selbst. – Einmal auch rannte ich um dieses Leben, wie ein panischer Hase, ein paar Schritte hinter mir eine Horde von CRS -Beamten mit Schlagstöcken, die auf alles einschlugen, was sich bewegte, bis es sich nicht mehr bewegte. Diese manifestations richteten sich nicht gegen die Regierung, im Gegenteil, und doch versuchte die Polizei – doch wohl im Auftrag dieser Regierung – regelmäßig, sie aufzulösen. Die Demonstranten – Zehntausende oft – waren für de Gaulle (1962 war noch nicht 1968), und der Ruf » OAS assassins!« wurde auch von mir skandiert. Es war die Angst vor einem faschistischen Putsch. »Le fascisme ne passera pas!« Die Polizei also im Dienst der demokratischen Republik: Aber trotzdem war sich niemand sicher, was diese Polizisten, die, ganz in Schwarz, Dobermännern in Menschengestalt glichen, selber dachten und verteidigten, und es gab schreckliche Gerüchte von vertuschten Massakern ebenjener CRS an Algeriern, die den Fehler gemacht hatten, in der Hauptstadt ihrer ehemaligen Herren leben zu wollen. (Die Gerüchte erwiesen sich später als richtig.) Ganze Polizeikorps jedenfalls bestanden nur aus pieds noirs, aus wütenden, gekränkten, rachsüchtigen Franzosen, die Algerien, ihren Lebensort, Hals über Kopf und mit Schimpf und Schande hatten verlassen müssen und die nun auf die Demonstrierenden wie auf Todfeinde einschlugen. – Wenn ich jetzt in der Nacht durch die Rue Mouffetard nach Hause ging, war die Stadt so still, so menschenleer, dass meine Schritte wie Schüsse knallten. Ich ging in der Mitte der Straße (die Rue Mouffetard war eine Gasse mit Kopfsteinpflastern, in der kaum je ein Auto fuhr), und in jedem dritten Hauseingang stand, den Kopf im Nachtschatten und bewegungslos, als sei er eine Statue, ein Polizist mit einer Maschinenpistole in den Händen, deren Lauf meinem Gehen folgte. Das Metall leuchtete im Mondlicht. Keine Blicke, keine Worte, nie ist etwas passiert. Trotzdem war ich schweißgebadet, wenn ich ins Hotel trat, wo Madame immer noch hinter ihrem Tresen verschanzt hockte und meinen Gruß nicht erwiderte. – Tagsüber war die Rue Mouffetard belebt. Gemüsestände, Metzgereien, in deren Schaufenster Schweineköpfe lagen, die eine Petersilie im toten Maul trugen, Schreiner, deren Sägen kreischten. Ein kleines, sehr kleines Theater, das sogar auf der Straße draußen nach Staub roch. Ich aß oft in einem Lokal, das »À la soupe chinoise« hieß und in dem eine Wirtin (»Madame Mouff«) mit absoluter Autorität herrschte. Sie war keine Chinesin, ich hatte sie im Verdacht, ein entlaufener Sträfling aus Cayenne zu sein, denn sie hatte eine tiefe Stimme, einen Schnurrbart auf der Oberlippe und Oberarme wie ein Gewichtheber. Die riesigen Brüste waren ihre Tarnung. – In der Küche hantierte ihr Mann, ihr Männchen, das tatsächlich ein Chinese war und wie ein Jongleur mit achtzehn Pfannen gleichzeitig auf drei Gasflammen kochte. (Rieter, der Hasenburg-Wirt, der ein Ähnliches versucht hatte, sah neben ihm wie ein Anfänger aus. Ich hätte aus der Soupe chinoise gern meine Hasenburg gemacht. Aber in französischen Restaurants kann man nicht herumhocken und an einem Wein nuckeln. Essen, zahlen, raus.) – Ich aß immer einen riz cantonnais oder ein chop suey. Vielleicht gab es gar nichts anderes; doch: banane flambée zum Nachtisch, die ich mir kaum je leistete.
    Einmal trat ich an einem sonnigen Morgen aus meinem Hotel, und die Rue Monge, sonst eine chaotische Hauptverkehrsader, war leer. Da und dort ein Passant, kaum einer. Ein leerer Bus. Ich sah nach links, nach rechts und kam mir wie einer vor, der etwas ganz Entscheidendes verpasst hat und nicht weiß, was. Vielleicht war der Putsch über Nacht gelungen, und es herrschte seit 06.00 ein absolutes Ausgehverbot. Wer fliehen wollte, wurde im Parc des Princes oder in den Tuileries zusammengetrieben und erschossen. Es stellte sich heraus, dass bei einer der letzten Großdemonstrationen ein Student von der Polizei getötet worden war, mutwillig und gezielt (das hatte ich mitbekommen), und an diesem Morgen begrub die Stadt das Opfer, irgendwo

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