Reise zum Rand des Universums (German Edition)
mich auf die rive gauche, ins Quartier Latin. Ich fand ein Zimmer, das zwar nicht im 5 e arrondissement, sondern im 13 e lag. Immerhin war das untere Ende der Rue Mouffetard gleich vor meiner Haustür, und sie wurde mein Biotop. Die Place de la Contrescarpe, wo es zwei oder drei Cafés gab, in denen jene Chansonniers und Chansonnières auftraten, die in den prominenten Lokalen nahe der Seine keinen Fuß auf den Boden kriegten. Dort, wo Maurice Chevalier und Georgette Plana gesungen hatten und Juliette Gréco und Georges Brassens immer noch auftraten. Es gab allerdings eine Sängerin, die immer wieder an die Place de la Contrescarpe kam, obwohl sie schon im Olympia gesungen hatte und Schallplatten machte. Sie war, ein Kind des Quartiers, ein richtiger Name geworden, der mir jetzt trotzdem nicht einfällt. Barbara, aber das war eine andere. Bei ihr wusste man nie, wann und ob überhaupt sie auftreten würde. Häufig aber lohnte sich das Warten hinter einem Glas Rotwein (Konzertzuschlag), und plötzlich ging die Tür auf, und da war sie mit ihrer Gitarre in der Hand. Sie blieb dem Ort ihrer Anfänge treu. Lange Haare (blond?, dunkel?), schmal, sehr schmal, nicht mehr völlig jung. Eine warme Stimme. Nachher setzte sie sich an einen der Tische oder an die Bar und trank auch etwas. Ich hörte zu, wenn sie mit dem Wirt herumalberte, und lachte mit, wenn die beiden lachten. Wie hieß sie nur? – Ja, einer der Quatre barbus war auch zuweilen da, der Bass, und mit ihm verstand ich mich regelrecht gut. Er sang aber nicht in dem Lokal, er wohnte in der Nähe und kam, um ein Schlummerglas zu trinken.
Oft trat ich spät – der letzte Gast – in die Nacht hinaus. Jetzt war die Place de la Contrescarpe leer, natürlich hatte es geregnet, und ebenso gewiss blies ein ekler Wind. Trotzdem: Hier, genau hier hatten sich der betrunkene Rimbaud und der besoffene Verlaine angebrüllt, und mir war, während ich in einsamem Glück die lichtlose Rue Mouffetard hinunterging, als ob ich ihre hysterischen Stimmen immer noch hörte. Mein Zimmer lag unter dem Dach eines kleinen Hotels, das Hôtel de France hieß, aber von den Franzosen gemieden wurde. Die Gäste waren Nordafrikaner oder Perser. Ich wohnte im fünften Stock und sah auf die Rue Monge hinunter, die in Selbstmorddistanz unter mir lag. Eine Verkehrsampel direkt unter meinem Fenster. Jedes Mal, wenn die Autos wieder anfuhren, die Laster und Autobusse vor allem, zitterten die Scheiben des Fensters, das wie eine Balkontür bis zum Boden ging, obwohl, wenn ich sie öffnete, draußen kein Balkon war. Nur ein hüfthohes Gitter aus Schmiedeeisen. Im Zimmer: eine geflammte Tapete, die, wie anders, da und dort abblätterte. Eine Deckenlampe mit einer Glühbirne, deren Leuchtkraft kaum bis zum Fußboden reichte. Ein Waschbecken, dessen Hahn – kaltes Wasser – tropfte. Ein Tisch, ein Stuhl, eine Schreibmaschine!, ein Bett, ein Bücherregal, das ich mit Seilen an zwei Haken in der Wand gebunden hatte, von denen ich nicht sicher war, ob sie das Gewicht der Bücher wirklich halten konnten. Mein Schädel, wenn ich im Bett lag, war genau unter dem Regal, das ihn, wenn die Haken aus der Wand gerissen wären, zertrümmert hätte. Ich prüfte jeden Abend vor dem Insbettgehen, ob mein Aufhängesystem noch zusammenhielt; kam aber nie zu einem endgültigen Ergebnis. Dass ich das Regal aber endgültig an einen Ort gehängt hätte, wo es mich nicht getötet hätte: so weit ging ich dann doch nicht. – Das Klo war zwei Etagen tiefer und so, dass ich es vorzog, das des Cafés auf der andern Straßenseite zu benutzen. – (Anne Sylvestre! Sie hieß Anne Sylvestre, die Sängerin an der Contrescarpe!) – Die Wirtin war eine Französin, sie ja, sie war die schlechte Laune selbst und jedem Lächeln unzugänglich. Auch duldete sie keine Damen. Sie hatte nicht einmal weibliche Dauermieter. Und wenn ein Reisender eins der Zimmer im ersten Stock für eine Nacht haben wollte, musste er nachweisen, dass die Frau mit ihm seine Frau war. Reisepass, amtlicher Wohnsitznachweis, Beglaubigung des Vatikans, dass kein vorehelicher Geschlechtsverkehr stattgehabt hatte. Liebespaaren blieb die Frage nach einem Bett im Hals stecken, wenn sie vor diesem Würgeengel standen, an dem niemand vorbeikam.
Ich hatte mir, von Basel aus und mit der Hilfe von Georges Blins Fakultät, eine Anstellung an einer Pariser Schule besorgt. Vier oder fünf Wochenstunden und so was wie 600 Francs im Monat. Und die Zeit wurde mir von der Uni
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