Reise zum Rand des Universums (German Edition)
fern auf der andern Seite der Seine. Auf dem Père Lachaise? Jedenfalls waren etwa eine Million Menschen zum Begräbnis gegangen und füllten alle Straßen, die zum Friedhof führten. Der Rest der Stadt war entsprechend leer. Ich fühlte mich am falschen Ort.
GEWISS war ich auch so schnell, regelrecht hastig nach Paris aufgebrochen, weil Brigitte jetzt dort war und mir immer noch nicht aus dem Sinn wollte. Sie hatte mir keine Adresse hinterlassen, und außer der Vermutung, dass sie ja wohl hie und da die Sorbonne betreten musste und vielleicht in der Bibliothèque nationale arbeitete, hatte ich keine Ahnung, wie ich sie finden sollte. Ich war ein bisschen wie Krampach in Eugène Labiches Le plus heureux des trois, der, vom Elsass aus, seinen besten Freund in Paris mit seinem Besuch überraschen wollte, ebenfalls keine Anschrift hatte und sagte – befragt, wie er es denn anstellen wolle, seinen lieben Spezi in diesem gewaltig großen Paris aufzuspüren –, nun, das sei kein Problem, er stelle sich dann einfach auf den Hauptplatz, und früher oder später komme der Freund dann schon vorbei, weil jeder in jeder Stadt einmal über den Hauptplatz gehe. – So hielt auch ich es, und tatsächlich – ganz wie Krampach das vorausgesehen hatte – ging ich an meinem zweiten oder fünften Arbeitstag schon von meiner Schule zur Metrostation (»Sablons«), und Brigitte kam die Treppe hoch. Sie trug einen hellen Regenmantel und hatte die Haare irgendwie anders. (»Sablons« ist eine so unbedeutende Metrostation, dass ich zuweilen der Einzige war, der ausstieg.) Sie war sehr verblüfft, als sie mich erkannte. Es stellte sich heraus, dass sie keine hundert Schritte weiter weg ein Zimmer hatte, und ich sah es am nächsten Tag sogar, durch den Türspalt und über ihre Schulter hinweg, weil sie in der Tür stehen blieb und mich nicht hereinbat. Ein winziger Raum, ziemlich unaufgeräumt. Ihr Bett stand so nah an der Straße, dass ich sie vom Trottoir aus hätte berühren können, wäre ihr Fenster geöffnet gewesen. Sie ließ es aber nie offen, und die Vorhänge waren immer gezogen. – Kann sein, dass sie bald bereute, mir, überrumpelt von unserm unverhofften Wiedersehen, ihre Adresse verraten zu haben. Wir standen direkt vor dem Café des Sablons (in Paris steht man immer vor einem Café), aber sie wollte nichts mit mir trinken. Sie zündete sich eine Zigarette an (Gauloises; sie hatte die Marke gewechselt). Sie lächelte sogar, als sie mich fragte, wie um Himmels willen es mich in diese Gegend verschlagen habe. Wo nur die reichen Säcke wohnten; und sie, weil sie das Zimmer einer Freundin habe erben können.
Ich ertrank aufs Neue in ihren Augen, loderte auf der Stelle wieder mit der alten Hitze und fand sie so entzückend wie zuvor. Noch hinreißender, denn jetzt war sie in Paris, wo sie hingehörte. Ich hatte ja versucht, sie mir abzugewöhnen! Hatte mir, das Wort meines Vaters im Ohr, immer wieder gesagt, dass ich das mit den Frauen überschätzte. Mit Brigitte. Aber nun, sekundenschnell, hing ich erneut am Haken einer Angelschnur, die Brigitte gar nicht nach mir geworfen hatte. So eine tolle Frau! – Ich begann wieder mit meinem Stalking und saß stundenlang in einem Café an der Ecke ihrer Straße (in Paris ist an jeder Straßenecke ein Café). Nie kam sie; kann schon sein, dass sie, sorgsam aus dem Haus lugend und wie ein Indianer der Metrostation näher pirschend, mich an meinem Tischchen warten sah, rechtsumkehrt und einen Umweg bis zur Étoile machte, wo die Metro sechs Eingänge hatte und jede Menge Menschen herumwimmelten. Ich klopfte ein paar Male an ihre Tür, pochte auch gegen das Fenster und rief vielleicht sogar: »Brigitte?« Nie war sie da. Aber einmal, mindestens einmal, hatte ich den Eindruck, auf der andern Seite der Tür Geräusche zu hören. Jemand, der mitten im Gehen von meinem Klopfen überrascht worden war und jetzt versuchte, den Fuß unhörbar auf den Boden zurückzustellen? Ein kleines Husten, weil Brigitte den Rauch ihrer Zigarette (Gauloises) in den falschen Hals bekommen hatte? Oder war sie gar mit einem Mann, einem neuen Bären, Wolf oder Hasen, und hielt ihm lächelnd einen Zeigefinger über den Mund, um ihm deutlich zu machen, dass der da draußen dann schon wieder gehe, der Knilch, und dann dürfe er sich wieder über sie werfen und mit ihr anstellen, was immer er wolle, und so laut wie es ihm passe? – Ich ging. – Ein, zwei Male legte ich ihr kleine Geschenke auf die Schwelle. Einmal
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