Reise zum Rand des Universums (German Edition)
See, mit May.
MIR wurde klar, dass ich mein Studium abschließen musste. Ich hatte keine Freude mehr daran, in der Bibliothek zu sitzen und – für meine Dissertation – ein Buch nach dem andern zu exzerpieren. (Das tat ich, nach alter Art, mit einer Füllfeder auf unlinierte Karteikarten, die ich nach einer Ordnung in Karteikästen ablegte, die weder durchdacht noch konsequent war.) Ich hatte, was ich hatte, und das musste genügen. Ich musste mich einfach auf meinen Hosenboden setzen und durfte erst wieder aufstehen, wenn ich den Punkt hinter den letzten Satz gesetzt hatte. Ich hatte noch keine Zeile geschrieben. Aber ich hatte die Zettelkästen voller Notizen, Auszüge aus Büchern, Querverweise. Schlaue Gedanken zum Thema. Gott sei Dank hatte ich so etwas wie die Deutungshoheit über meinen Stoff, weil ich über etwas schrieb, worüber noch keiner geschrieben hatte. Ich konnte meinen Claim ganz allein abstecken. Es ging darum zu erforschen, ob die Sprache des Faschismus einen Einfluss auf die Literatur der jungen Autoren nach 1945 gehabt hatte, und wenn ja, welchen. Dabei kam heraus, dass der Einfluss ganz erheblich gewesen war. Verheerend. Heinrich Böll oder Alfred Andersch oder Wolfdietrich Schnurre oder Wolfgang Borchert wirkten wie Sprachverwundete, denen es schwerfiel, ihre programmatischen Vorgaben (»Kahlschlag«, »Stunde Null«) zu erfüllen. Und die waren die Besten! Um wie viel mehr waren die andern aus der Bahn geworfen worden. Ich hatte, um das herauszukriegen, so ziemlich alle literarisch gemeinten Bücher gelesen, die – von Debütanten; nicht von den Alten, die ihre Sprachwurzeln noch in der Zeit vor 1933 geschlagen hatten – zwischen 1945 und 1948 geschrieben worden waren. Es waren zwar viele, und viele waren unerträglich öde und verquast. Aber es war zu machen, so viele waren es nun auch wieder nicht.
Meine Materialien lagen inzwischen allerdings auf meinem Schreibtisch herum, ohne dass ich viel daran tat, denn ich verbrachte die meiste Zeit mit Schulegeben – verdiente Geld! –, als Französischlehrer am Realgymnasium, an dem ich vor einer Handvoll Jahren selber noch zur Schule gegangen und wo mein Vater immer noch tätig war. (Er war krankgeschrieben; er war krank; ich erbte eine seiner Klassen; er wurde bald frühpensioniert.) Es waren jene Jahre, da der Lehrermangel so akut war, dass an jedem halbwegs sprachfähigen fünftsemestrigen Studenten drei Schuldirektoren herumzerrten, um ihn in ihre Schule zu schleifen. So kam es, dass auch mich so ein Rektor, der des Realgymnasiums eben, Eduard Sieber, an einem frühesten Morgen anrief – er klang, als ob er kniend telefoniere – und mich anflehte, an seiner Schule einzuspringen, und zwar am besten jetzt. Er habe eine ganze Schülermeute im Haus, für die kein Lehrer da sei. Er nehme inzwischen jeden. Ich löffelte also mein Müsli fertig und fuhr in die Stadt und übernahm aus dem Stand so etwas wie ein volles Programm. Vierundzwanzig Wochenstunden. Ich wurde einer Abiturklasse vorgeworfen, deren Schüler kaum jünger als ich waren. Es ging eigentlich ganz gut, obwohl ich oft mit meiner Vorbereitung den Schülern eine Stunde voraus war. Ich hatte einige Mühe, mich von diesen jungen Männern abzugrenzen und sie nicht zu duzen. (Einmal, unverzeihlich!, sagte ich zu Herrn Muttenzer, er sei ein Arschloch, einesteils, weil er eines war, andrerseits aber gewiss auch, weil ich vergessen hatte, dass ich der Lehrer und nicht sein Kumpel war. Herr Muttenzer schoss in die Höhe und aus dem Schulzimmer hinaus und ging zum Rektor, jenem Eduard Sieber, der mir dann einen strengen Verweis erteilte.) Ich durfte dann nur die mündlichen Prüfungen nicht durchführen – nicht wegen Herrn Muttenzer; sondern weil ich ja gar keine Lehrberechtigung hatte – und war erleichtert, dass keiner meiner Schüler durchfiel. (Muttenzer, ein kluger Bursche, hatte eine exzellente Note.)
Ich studierte nun irgendwie im Laufschritt oder kaum mehr, weil mir der Zufall, bei dem wohl mein Vater die Finger im Spiel hatte, nach wenigen Wochen zu einem noch schöneren Job verhalf, den ich neben dem Schulegeben auch noch übernahm und der so berückend angenehm war, weil ich ihn, ganz wie ich wollte, groß oder klein gestalten konnte. Ich wurde nämlich Kulturkorrespondent der Welt für den Raum Schweiz. (War mein Chef Horst Eberhard Friedrich? Oder schon Walter de Haas?) Ich bekam ein Fixum von 500 Franken im Monat – viel Geld für mich – und konnte schreiben,
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