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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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andere Extrawurst gefordert habe; ein Spiel, man kann’s ja mal versuchen. Und manchmal legte mir dieses Leben tatsächlich einen Wurstzipfel auf die Türschwelle. ( Vieillir, ça fait quand même chier, sagt May zu mir, eben jetzt gerade.)
    MAY lernte ich so kennen: Ich klopfte an ihre Tür. Diese öffnete sich. Und da stand sie: mit einem braun – tief braun! – gebrannten Gesicht, blauen Augen, langen hellen Haaren. Sie trug (es war Hochsommer!) einen Rollkragenpullover, der noch blauer als ihre Augen war, und Jeans. Sie gab mir die Hand, ja, und die habe ich nun neunundvierzig Jahre lang nicht mehr losgelassen. Jetzt, beim ersten Mal, löste ich meine Hand noch einmal aus ihrer, oder sie zog ihre zurück. Sie lachte. (Es war übrigens das einzige Mal, dass sie braun wie eine war, die ihr Leben an Stränden verbrachte. Sie hatte auch damals schon eine eher britische Haut und hatte just in diesem einen Sommer – wo?, im Schwimmbad? – alles dafür getan, auch einmal wie eine Sonnenanbeterin auszusehen. Es war ihr toll gelungen.) Sie trug ihre Reisetasche bereits in ihrer andern Hand, trat in den Korridor hinaus, verriegelte die Tür mit einem Schlüssel, der so groß wie in Hänsel und Gretels Zeiten war, und wir gingen – klar, dass ich ihre Tasche trug – nebeneinander den steilen Schotterweg hinunter, der von ihrer Haustür zur Straße führte. Ich sagte etwas, und sie antwortete, oder umgekehrt. Jedenfalls sprachen wir französisch, sie wie ein glockenhell fließender Bergbach, ich wie der Ochs aus der deutschen Schweiz, der ich ja auch war.
    Dass ich an Mays Tür klopfte, kam so: Nora hatte einige Wochen als fille au pair bei reichen Leuten in einer Villa in der Nähe von Saint-Tropez verbracht – sie hatte die Kinder der Herrin des Hauses gehütet – und mit ihrem Freund von damals verabredet, dass er sie nach ihrem letzten Arbeitstag mit seinem Auto abholte. Dieser Freund war auch mein Freund – er war in der Schule mein Banknachbar gewesen – und hieß für alle und jeden Bummi, auch für Nora. Sein richtiger Name war Karl Heinz, Karl Heinz Baumgartner, aber Karl Heinz, das brachte seine eigene Mutter kaum über die Lippen. Und zudem hießen und heißen in Basel alle Baumgartner Bummi. – Auch May hatte zu Nora gesagt, sie hätte Lust, zwei, drei Tage im Süden zu verbringen, und ob sie mit diesem Bummi mitfahren könne. Von mir wusste sie da noch nichts, von ihrem Schicksal. Nora sagte es Bummi, mit dem inzwischen ich verabredet hatte, seinen Transport ebenfalls zu nutzen, um ein bisschen zwischen den Pinien des midi herumzustreunen. (May war die beste Freundin von Nora. Auch sie studierte in Genf, ebenfalls bei Piaget, wohnte allerdings, weil sie da eine Arbeit hatte, in Lausanne, in einem Abbruchhaus voller Gefahren – Böden brachen ein, Heizöfen explodierten –, das ich eben als eine paradiesische Idylle wahrzunehmen begann, als einen von Rosen zugewachsenen Palast, denn tatsächlich hatten die Bewohner der 14, Rue de la Barre ihren einstürzenden Altbau mit so viel Kletterrosen umgeben, dass diese die Mauern aufrecht hielten und nicht umgekehrt.)
    Ich hatte also – das habe ich, glaube ich, schon gesagt – an Mays Tür geklopft und stand nun mit der Lockerheit eines erfahrenen Weltenbummlers gegen den Türrahmen gelehnt. Noch nicht habe ich gesagt, wie überwältigend sie war, als sie die Tür auftat, und auch nicht, dass sie irgendwie – sie, die das weiblichste aller weiblichen Wesen war und ist – wie ein Bub aussah. Vielleicht wegen der Haare, die sie – ja, so war es – gar nicht offen trug wie am gleichen Abend noch, sondern zu einem Rossschwanz zusammengebunden hatte. Vielleicht wegen der Jeans. Wahrscheinlich aber, weil sie so resolut war, so gewiss. Ja, sie trug ihre Tasche den Schotterweg hinunter, nicht ich; eher hätte sie, hätte ich eine gehabt, meine Tasche auch noch getragen. Unten, auf der Straße, wartete Bummi neben seinem VW -Käfer, dessen Motor lief, als hätten wir keine Sekunde zu verlieren.
    Wir quartierten May auf den Hintersitzen ein und plauderten auf unsern Vordersitzen sofort wieder in der uns eigenen Sprache, Baseldeutsch, obwohl wir ahnten, ja wussten, dass May kein Wort von unserm Gewitzele verstand. Hochdeutsch hätte allerdings auch nicht viel geholfen, denn es stellte sich bald heraus, dass sie zwar ein Abitur mit einem »Genügend« in Deutsch hatte, außer »guten Tag« und »streng verboten« aber gar nichts zu sagen wusste. Das reichte

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