Reise zum Rand des Universums (German Edition)
zum Bauern oben an der Straße, schleppte das heilige Manuskript und den übrigen Kram zum Auto hoch und fuhr, ohne auch nur einmal anzuhalten, nach Lausanne. May freute sich. An nächsten Morgen brach ich schon um sieben Uhr früh auf und langte noch vor Mittag bei Heinz Rupp an. Er freute sich auch und legte mein Werk auf einen Tisch, auf dem ein ganzer Stapel ähnlicher Manuskripte lag. Er las es aber bald und fand es sehr befriedigend. Walter Muschg, der es gegenlesen musste, war weniger angetan. Der Mittelwert ihrer Beurteilungen war ein Magna cum laude, womit ich hochzufrieden war.
Nach der mündlichen Prüfung ging ich nach Hause. (Ja, zuerst waren May, Nora und ich noch in der ›Harmonie‹ gewesen.) Ich öffnete die Tür zum Arbeitszimmer meines Vaters, steckte meinen Kopf durch den Türspalt und sagte, ich hätte eben die Doktorprüfung bestanden. Mein Vater hielt mit dem Schreiben inne, schaute mich an und sagte: »Na prima!« Dann tippte er weiter, und ich schloss die Tür.
DEN Tod meines Vaters habe ich so oft erzählt, dass ich ihn auswendig hersagen kann, Wort für Wort. Ich will hier nur festhalten, was ich wirklich erinnere. (Das genau Erinnerte schreibe ich kursiv.) – Meine Mutter und ich – und vielleicht auch Thomas? Oder war der Dritte Max? – wollten in den Cirkus Knie gehen (wir gingen dann auch), und als ich die Treppe aus meinem Dachstock herunterkam, gespornt und gestiefelt, trat mein Vater aus seinem Zimmer in den Korridor, blieb, sich am Türrahmen festhaltend, stehen und sah mich mit großen Augen an. Erschöpft? Panisch? Hilflos? Ich sagte vielleicht: »Geht’s?« oder »Mach’s gut, Papi!« Er jedenfalls flüsterte: »Kannst du heute Abend hierbleiben?« Ich sagte, aber Papa, das wisse er doch, wir hätten Karten für den Cirkus Knie. Mami warte unten. Ich sei ja sehr bald zurück, sicher vor elf. Mein Vater schaute mich noch einmal mit diesen Augen an und ging in sein Zimmer zurück. – Meine Mutter und ich – und Thomas oder Max – saßen dann im Zirkus, gewiss auf den billigsten Plätzen, weil wir immer auf den billigsten Plätzen saßen, und waren vor elf zurück. Meine Mutter blieb in der Küche. Ich stieg leise die Treppe hoch und legte das Ohr an die Tür meines Vaters. Ich hörte gar nichts. Er schlief wohl. Ich stieg in meinen zweiten Stock und ging auch zu Bett.
Am frühesten Morgen, es war noch dunkel, weckte mich ein Geräusch. Leise, kurz. Als ob ein Ast bräche. Obwohl ich, vermeintlich, im Tiefschlaf gelegen hatte, schnellte ich aus dem Bett und rannte los. Ich wusste, das war das Geräusch, das endgültige. Ich toste die Treppe hinab und war eine Sekunde später im Zimmer meines Vaters. Er lag auf dem Boden des Badezimmers, im Pyjama, den Kopf schräg zwischen dem Badewannenrand und der Wand eingeklemmt. (Das Badezimmer war winzig klein und konnte nur von Papis Zimmer aus betreten werden. Es war in der Tat so klein, dass die Beine meines Vaters ins Zimmer hineinragten. Nackte Füße.) Er atmete in unregelmäßigen Stößen. Dann und wann ein Gurgeln, ein kaum hörbarer Schrei. Ich sagte nichts, ich wusste, das war der Tod. Ich versuchte, meinen Vater aus seiner Lage zu befreien, zerrte an ihm, an den Beinen, an den Schultern. (Wir hatten kaum Platz, zu zweit, in dieser kastengroßen Badekammer.) Ich wollte vermeiden, dass der Kopf auf die Steinfliesen krachte; genau das geschah dann doch. Irgendwie schleifte ich den Vater in sein Zimmer hinüber. Er atmete nun nicht mehr. Ich wuchtete ihn aufs Bett. Er war schwer, tonnenschwer. Ich drehte ihn auf den Rücken. Ich glaube nicht, dass er friedlich aussah, so wie man das den Toten nachsagt. Er hatte ein gequältes Gesicht. Seine Augen starrten zur Decke hoch. – Jetzt war auch meine Mutter da, die zu alarmieren ich keine Zeit gehabt oder vergessen hatte. Sie stand versteinert, in einem Nachthemd, kreideweiß im Gesicht . Ich stand auch. Dann bewegte sie sich doch und ging zum Bett und beugte sich über meinen Vater, ihren Mann, und schloss ihm die Augen. Ohne ein Zögern, als ob sie das irgendwo gelernt habe.
Ich ging indessen zum Telefon und wählte die Nummer von Doktor Bloch, mit dem sich mein Vater vor kurzer Zeit so gestritten hatte, dass ihm Doktor Bloch – ein Schatz von einem Menschen – erklärt hatte, er behandle ihn nicht mehr. – Nie mehr. (Ich habe keine Ahnung, was der Grund des Zerwürfnisses war. Ich habe, ohne jeden Anhaltspunkt, die Phantasie, mein Vater habe eine antisemitische Bemerkung
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