Reise zum Rand des Universums (German Edition)
schlafen würde. Wir fanden ein Restaurant am alten Hafen, nah am Wasser, das nach fernen Welten roch. Aßen moules, oder war es doch eine Bouillabaisse? Gewiss tranken wir ein paar Gläser Rotwein. Danach schlenderten wir den Quai entlang – ein Schiff neben dem andern –, ich neben May, Nora mit Bummi. Bald waren Nora und Bummi weit voraus – sie plauderten artig –, weil May und ich uns küssten. Wir küssten uns so ununterbrochen, dass ich mich an den ersten Kuss nicht zu erinnern vermag. Oder eher noch, all die Küsse waren ein einziger erster Kuss. Man kann durchaus Mund auf Mund vorwärtsgehen, etwas torkelig halt. Bummi und Nora warteten endlich doch auf uns. Wir lachten und gingen nun Hand in Hand. (Ich kannte den Witz, den man auf Englisch erzählen muss, der mit hand in hand beginnt und dessen Pointe erneut hand in hand ist, noch nicht und hätte ihn wohl, in diesen wunderbaren Minuten, May nicht erzählt, hätte ich ihn gekannt.) Wir sahen in der Ferne eine Lichtreklame blinken, »La licorne«, mit einem neonleuchtenden Pfeil, der uns in einen Keller verwies, den Keller eines Neubaus, an dem noch die Gerüste standen. Das Lokal, schummrig wie erwartet, war völlig leer, wenn wir von einem einzigen Kellner absahen, einem Algerier oder Tunesier, der uns sofort mit einem Eifer an einen Tisch geleitete, als habe er diesen eigens für uns den ganzen Abend lang freigehalten. Er empfahl uns ein Getränk, das eine Spezialität des Hauses war, grün leuchtete und das wir begeistert tranken. Musik aus einer Juke-Box. Wir tanzten, May und ich, und wurden bälder als bald jenes Tier mit den vier Beinen, von dem die Bücher künden, aufrecht noch, immer weniger aufrecht, und immer bewegungsloser. Dass wir nicht unter einen der Tische fielen und gänzlich zu jenem Vierfüßler, so wie ihn alle kennen, wurden, war ein Wunder. Bummi und Nora, keine Ahnung, was sie taten in der Zeit. Auch tanzen vermutlich, trinken und staunen, was aus Freundin, Freund und Bruder in so kurzer Zeit wurde. – Auf dem Campingplatz war klar, wer in welchem Zelt schlief. (Ja, auf der Rückfahrt – damals war das Betrunken-Autofahren ein Kavaliersdelikt – bemerkte Bummi, dass der Kilometerzähler seines VW punktgenau sein Geburtsdatum anzeigte, 120 838 Kilometer, oder so was, und er war am 12. August 1938 geboren, oder so ähnlich. Er stand auf die Bremse und staunte minutenlang das numerische Wunder an. Nora staunte mit. May und ich, die wir von hinten die Kilometeranzeige sowieso nicht sahen, hatten jede Zeit der Welt, die im Mondlicht schimmernde Lagune zu bewundern. Schwarze Fischerkähne. Ein Himmel voller Sterne. Und immer noch der juchzende Bummi, der das Wunder seiner Geburt und dass sein Auto das dokumentierte, noch immer nicht fassen konnte.) – Auch über dem Campingplatz schien der Mond, so voll, wie er das nur konnte. Nora und Bummi krochen ins Zelt, und wir auch.
Am Abend des nächsten Tags – wir waren in der Camargue herumgefahren und hatten die Stiere und Flamingos bewundert – musste May schon wieder nach Hause, nach Lausanne, zu ihrer Arbeit. (Sie war am Office médico-pédagogique angestellt und praktizierte eine Heilmethode, die psychothérapie de la motricité hieß und von der ich nur verstand, dass es darum ging, verhaltensgestörte Kinder durch so etwas wie ein therapeutisches Turnen zu heilen.) Wir begleiteten sie bis zum Bahnhof von Avignon. Auch Bummi und Nora, mehr ein Liebespaar als zu Beginn, kamen auf den Bahnsteig. Der Zug fuhr ein. Ich küsste May, die mich zurückküsste. Ein Kuss auch, ein anderer, für Nora und Bummi. Ich habe keine Ahnung, warum ich nicht, wenigstens dieses eine Mal, dem Vorbild meines Vaters folgte und auch in den Zug stieg. Er hatte das größere Risiko auf sich genommen, er hatte nicht gewusst, ob seine Angebetete ihm ein Lager an ihrer Seite gewähren würde. May hätte, ganz gewiss. Aber nein. Ich blieb in Avignon. Ich habe vergessen, was ich an den folgenden Tagen trieb. Jedenfalls fuhr ich nicht mit Bummi und Nora mit; ich wollte nicht das dritte Rad am Wagen sein. Ich glaube, ich fuhr mit dem Bus zu den Cézanne-Bergen. Weiße Felsen, ginsterübersäte Wiesen. Am nächsten Abend jedenfalls saß ich ganz allein vor dem Café des deux garçons in Aix-en-Provence, und mir dämmerte, ein Bier trinkend, dass ich ein großes Kamel war, ein trotzdem glücksdurchströmtes Kamel, und statt im ›Deux garçons‹ in Aix in Lausanne hätte sitzen können, in Ouchy, am
Weitere Kostenlose Bücher