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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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arbeitete die Zettelkästen ab, in der gottgewollten Reihenfolge der dort eingeordneten Belege. – Jeden Morgen fuhr ich in die Ebene hinunter, nach Cavaillon, das mir behaglicher war als das malerische Gordes. In Cavaillon war immer ein Heidenbetrieb, und es war nicht so herausgeputzt. Ich trank einen Kaffee, aß ein Croissant, las den Midi libre und kaufte das Essen für den Tag ein. Dann fuhr ich zu meiner Einsiedelei zurück. (Von diesen Rückfahrten den Berg hinauf ist mir – obwohl rein gar nichts Besonderes geschah – ein Bild gestochen scharf in Erinnerung. Zehn Sekunden Gedächtnisvideo. Immer wieder!, beim Einschlafen und auch mitten am Tag, jetzt natürlich!, sehe ich den linken Kotflügel des 2CV [himmelblau], ein Stück Straße [grau], die Böschung [grüne Provence-Büsche]. Ich fahre. Sonst nichts. [Doch: ich weiß, dass das die Straße nach Gordes ist.] Warum immer wieder dieses eine, nichtssagende Bild, wie eine Beschwörung? Weil es nach Sonne riecht, nach Glück, nach Freiheit?)
    Einmal gab es ein Unwetter. Schon am Nachmittag wurde der Himmel schwärzer und schwarz, und bald begann es auf eine Weise zu regnen, die das Gewohnte übertraf. Der Fahrweg, der von der Straße zum Haus hinunterführte, verwandelte sich in einen Bach. Ich stürzte zum Auto und schaffte es, es durch das unvermutete Gegischte nach oben zu fahren. Während ich zurückging, selber tropfnass, wurde der Weg zu einem so reißenden Gewässer, dass ich mich an Büschen und Bäumen festhalten musste, um nicht mitgeschwemmt zu werden, über den flachen Felsvorplatz und die Kante des Abgrunds hinaus, in den die Fluten jetzt stürzten und der von unten her gewiss wie die Victoria-Fälle aussah. Im Haus stand das Wasser knöchelhoch. Meine losen Papiere schwammen wie Seerosen herum. Die Zettelkästen waren vollgelaufen. Ich watete panisch von da nach dort und sammelte meine Notizen ein. Ich trug sie, dann auch den schon geschriebenen Text – er hatte auf dem Tisch gelegen; war trocken – und die Schreibmaschinen auf die schmale Holzgalerie hinauf. Die Matratze ließ ich unten, sie war bereits voller Wasser. Ich hängte die losen Blätter über eine Wäscheleine, leerte die Zettelkästen aus und stellte sie nebeneinander. Die Papiere und Karteikarten sahen elend aus. Tintengeschmier. Dann hockte ich da und sah zu, wie das Haus sich mehr und mehr mit Wasser füllte. Kniehoch, hüfthoch, brusthoch. Als es dunkel geworden war, fiel der Strom aus. Nun zeigte mir der Schein der Blitze den aktuellen Wasserstand. Der Regen toste aufs Dach, ein Donnerschlag nach dem andern. Ich glaube nicht, dass ich schlief; immerhin hatte ich, als ob ich die Sintflut hätte kommen sehen, gleich nach meiner Ankunft meinen Koffer mit den trockenen Kleidern auf die Galerie hochgestellt. So konnte ich wenigstens mein nasses Zeug loswerden. – Am nächsten Morgen, als das Tageslicht kam, hörte es auf zu regnen, und das Wasser begann abzulaufen. Ein Kochtopf schaukelte wie ein behäbiges Schiff zur Tür hin. Ein einzelnes Papier klebte an einem Tischbein; das, was auf ihm gestanden haben mochte, konnte keinen Eingang mehr in meine Dissertation finden, das sah ich auch von der Empore aus. Ich kletterte die Leiter hinunter und watete vors Haus. Steinbrocken überall, ein ganzer Olivenbaum lag quer über dem Felsplatz. Auf dem Fahrweg würde lange kein Auto mehr fahren; nicht einmal ein 2CV , der eigentlich keine Straßen benötigte. – Ich putzte einen Tag oder auch zwei Tage lang den Boden und die Wände. Schlamm, Dreck. Den Vorplatz räumte ich so gut es ging. Ich warf den Olivenbaum in den Abgrund, stückweise. (Eine Säge hatte Otto F.) Dann richtete ich mich wieder wie zuvor ein. Tisch, Stühle, die erste und die zweite Schreibmaschine. Die Zettel in ihren Kästen waren feucht, gewellt, klebten aneinander, aber ihre Beschriftung war zu lesen, so wie ein geübter Altertumsforscher auch einen verderbten Papyrus zu entziffern vermag. Die Papiere an der Wäscheleine waren trocken, auch sie wellig; mit einiger Phantasie und Chuzpe konnte ich durchaus erkennen, was auf ihnen stand. – Ich fuhr wieder jeden Morgen nach Cavaillon (das Auto hatte das Desaster unbeschadet überstanden); noch einige Tage lang war der Midi libre voll mit Berichten über die Folgen des Unwetters; auch die Ältesten konnten sich nicht erinnern, je ein solches erlebt zu haben. – Nach weiteren, sagen wir, zwei Wochen war ich fertig. Ich verriegelte das Haus, brachte den Schlüssel

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