Reise zum Rand des Universums (German Edition)
entlang. Morgen für Morgen, Abend für Abend.
Ich machte all das, was ein Lektor halt so macht. Ich las die Manuskripte, die unverlangt mit der Post kamen (kein Treffer, nicht einer), ich las die Bücher, die uns Gallimard, Knopf oder Feltrinelli zur Übersetzung vorschlugen, ich half, dass die Übersetzer keine Böcke schossen, ich las Fahnen, Revisionen, schrieb die Klappentexte oder trieb Pressetexte für die Rückseite auf: »It’s a knockout! New York Herald Tribune.« Ich träumte auch den Albtraum aller Lektoren: Du hast alles sorgfältig bedacht, jede Einzelheit zehnmal kontrolliert, im letzten Augenblick noch einen Kommafehler auf der drittletzten Seite entdeckt, und endlich liegt das Werk vor dir, das erste von sieben- oder zehntausend Gleichen, die schon auf dem Weg in die Buchhandlungen sind: und im Titel steht fett und unübersehbar ein Druckfehler. Sagen wir, »Auf der Suche nach der verlogenen Zeit« statt »nach der verlorenen«. Es blieb ein Alb, er ist mir nie geschehen. – Ich hatte sogar eine Sekretärin, der ich meine Briefe diktierte. Ich diskutierte mit Otto F. über Bücher und Strategien, sie Herrn Dr. Rast schmackhaft zu machen, oft im ›Aarhof‹ beim Mittagessen, während ich das Menü 1 und er ein Cordon bleu aß. (Er bestellte immer ein Cordon bleu.) »Folgendes:«, sagte Otto, und dann sagte er es. Oder ich erzählte ihm, leise klagend, dass Ludwig Hohl angerufen habe und dass das Gespräch zwei Stunden gedauert habe. Otti lachte und sagte, ihn rufe Hohl mitten in der Nacht an, da sei ich noch gut bedient.
Einmal arbeitete ich sogar für die Woche. Diese hatte vom Fotografen Horst Tappe (das war der, der das berühmte Foto von Vladimir Nabokov mit dem Schmetterlingsnetz gemacht hatte) den Tipp erhalten, dass Ezra Pound – der sich in der Psychiatrischen Universitätsklinik in Basel aufhielt und von dem jeder wusste, dass er seit Menschengedenken kein Wort mehr gesprochen hatte – an dem und dem Tag das Grab von James Joyce in Zürich besuchen wollte. Die Woche beauftragte, wohl weil in ihrer Redaktion niemand Englisch konnte, mich damit, Horst Tappe, der – ein Paparazzo der vornehmeren Art – Bilder von diesem Ereignis schießen wollte, zu begleiten und, wenn immer möglich, mit Ezra Pound ein Interview zu machen. Ich weiß nicht, welcher Teufel mich ritt, ein paar Minuten lang dachte ich tatsächlich, dass ich das vielleicht hinkriegte. Ein Scoop, ein Knüller. Horst Tappe und ich standen also frühmorgens bei Nieselregen auf dem Bahnsteig in Basel, und tatsächlich tauchte Ezra Pound bald einmal auf, unverkennbar, mit kleinen Schritten zwischen zwei Begleitern gehend. Er war alt, ein Greis (er war 80 und sah aus wie 110), und als ich ihn sah, diese Erscheinung aus den Urzeiten der Erdgeschichte, war mir sofort klar, dass dieser Mann nie ein Wort sagte. Ein versteinertes Gesicht. Ich schämte mich in Grund und Boden, überhaupt hier auf dem Bahnsteig zu sein – peinlich, peinlich –, und sagte zu Horst Tappe, ich lasse ihn jetzt auf der Stelle allein, falls ihm immer noch danach sei, wie ein Undercover-Agent hinter Pound dreinzuschleichen. Wenn er das wolle, solle er das tun: aber ohne mich. Ich ging, an Pound vorbei, dem ins Gesicht zu schauen ich mich hütete, zum Ausgang. Horst Tappe allerdings ließ sich nicht abschütteln und folgte der kleinen Gruppe bis zum Friedhof Fluntern in Zürich. Die Woche veröffentlichte ein oder zwei der Bilder. Pound, unendlich allein, neben dem Grabstein von Joyce.
Im Büro neben meinem saß André Ratti, ein kugelrunder, lebenspraller Mann, der für den Vertrieb und die Werbung zuständig war. Niemand konnte so gut telefonieren wie André. Wie er zum Hörer griff, die Nummer wählte – entschieden, klar, selbstgewiss! – und mit seinem unsichtbaren Gesprächspartner sekundenschnell in einem vollendet herzlichen Gespräch versank! Wie er, wenn das Telefon klingelte, den Hörer abhob – gelassen, eindeutig, bestimmt! – und »Rrrratti!« sagte! Niemand rollte das R wie André, und Gott hatte ihm den idealen Namen dafür gegeben. »Rrrratti!« (André Ratti wurde später – nicht so viel später – zum berühmtesten Homosexuellen der Schweiz. Er moderierte die Wissenschaftssendung des Schweizer Fernsehens und eröffnete die Sendung, von der er als Einziger wusste, dass sie seine letzte war, mit den Worten: »Ich heiße André Ratti. Ich bin schwul. Ich habe Aids.« Es war die Zeit, zu der wir andern noch kaum wussten, was das
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