Reise zum Rand des Universums (German Edition)
ich. (Meine Mutter war in der Küche oder im Garten.) Dann ließ ich die beiden für eine halbe Stunde oder so allein – weil ich etwas Unaufschiebbares tun musste; einen Brief zum Kasten bringen, telefonieren; was weiß ich –, und als ich zurückkam, plauderte mein Vater aufs höchste angeregt mit May, selber verliebt in die Geliebte seines Sohns, in einem geläufigen Französisch. Er, der das Modell eines stummen Philologen war und den ich zuvor über Jahrzehnte hin keine zwei ganzen Sätze in der Sprache Voltaires hatte sprechen hören. Auch May war bester Laune und entzückt von diesem lebendigen Mann. Sie sprachen über Rimbaud und Baudelaire und die französischen Surrealisten, beide äußerst kundig. Sie versuchten gemeinsam und mit Erfolg, sich an ein Gedicht von Éluard zu erinnern. Ich setzte mich zu ihnen und schwieg. (Das war auch jenes erste Mal, als, am nächsten Morgen, meine Mutter, wie sie das gern und oft tat, ohne zu klopfen in mein Mansardenzimmer stürmte, wo ich mit May im Bett lag. Meine Mutter schaute May an und sagte: »Was tust du denn hier? Ich dachte, du bist die Freundin von Nora!«)
Auch von der Beerdigung weiß ich nur noch Undeutliches. Edi Sieber redete, und Peter Schulz, der einer seiner Schüler gewesen und jetzt Pfarrer war. Ich habe vergessen, was er sagte, es war jedenfalls das Richtige. Peter Schulz wusste, dass mein Vater zwar die Bibel in- und auswendig kannte – ein Erbe seiner frommen Eltern –, mit der Religion im Allgemeinen und der Kirche im Besonderen aber nichts am Hut hatte. – Viele Menschen. Manche, die ihn jahrelang nicht mehr gesehen hatten und trotzdem gekommen waren. Sogar Freunde aus Köln, Pforzheim und Berlin. Ich allerdings war wie ein Schlafwandler und nahm alles wie durch eine Milchglasscheibe wahr. Sprach mit dem oder jener, herzlich und dennoch so, als sei ich ein Geist.
Dass meine Mutter dann die Papiere ihres Manns einfach wegwarf, bemerkte ich gar nicht. Noch eine Schuld. Denn ich hätte sie daran hindern müssen. Mein Vater hatte über Jahrzehnte mit Gott und der Welt korrespondiert (mit Thomas Mann und Heinrich Böll). Er war so etwas wie der Letzte in seinem Zeitalter, das längst das Telefon entdeckt hatte, der noch altmodisch lange, intensive Briefe schrieb und oft genug auch solche erhielt. Ich bemerkte den Verlust erst später, zweiundzwanzig Jahre später, als ich, nach dem Tod meiner Mutter, das Haus leerräumte und mich jäh fragte, wo eigentlich all die Papiere meines Vaters geblieben waren. Da kam ich erst drauf: Meine Mutter hatte sie entsorgt. – Eines hatte ich gerettet. Es steckte in der Schreibmaschine, und der Text brach mitten im Text ab. Als ob der Tod ihn während des Schreibens erwischt hätte, obwohl er – wollte er ein weiteres Treupel schlucken? – den Weg ins Badezimmer noch geschafft hatte. Es war der Anfang einer Rezension von H. C. Artmanns Verbarium. Auch unmittelbar vor seinem Tod war mein Vater begeistert gewesen. Ich riss das Blatt aus der Maschine und steckte es in eine Tasche. Später gab ich es H. C. Artmann.
OTTO F. Walter: Alle dachten, er sei der Inhaber und Chef des Verlags, der seinen Namen trug. Das war er aber nicht. Sein Vater hatte zwar die Firma gegründet, deren Herz eine Druckerei war, aber er war längst schon tot, eine Legende, eine Patriarchenlegende, deren Schatten den jungen Otto F. auch noch verdunkelte, als ich ihn kennenlernte. Ich sah ihn gut und klar, aber die Oltener sahen noch viele Jahre lang hinter ihm, riesenmächtig, den Papa stehen. Ihm selber mochte das geschehen, wenn er in den Spiegel sah und hinter sich etwas Schwarzes sah.
Der Walter-Verlag war eine Aktiengesellschaft mit unzähligen Kleinaktionären. Auch Otto F. besaß ein paar von diesen Aktien, aber das änderte nichts daran, dass er ein Angestellter war, nicht einmal der entscheidungsberechtigte Verleger – der war Dr. Josef Rast –, sondern nur – »nur!« – der Leiter der literarischen Abteilung, die in den Augen der Direktion und auch der Oltener besseren Gesellschaft, der die Walters eigentlich angehörten, ein bizarres Anhängsel des eigentlichen Unternehmens war. Dieses publizierte Reiseführer, Bildbände aller Art, historische Schriften und, vor allen Dingen, Bücher, die sich mit Glaubensfragen auseinandersetzten, mit Fragen des katholischen Glaubens, denn die Walters waren alle profund gläubig und befolgten die Instruktionen des Papsts wortgenau. (Otto F.s Schwester, Silja, war eine Nonne.)
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