Reise zum Rand des Universums (German Edition)
gemacht.) Doktor Bloch, den ich offenkundig aus dem Tiefschlaf geweckt hatte, sagte denn auch einigermaßen unwirsch, er sei nicht mehr der Arzt meines Vaters und denke nicht daran zu kommen. Mein Vater wisse das ganz genau. »Bitte«, sagte ich. »Es ist das letzte Mal.« – Ein paar Minuten später war Doktor Bloch da. Auch er war, wie wir alle, im Pyjama. Trug einen Regenmantel, an den Füßen so etwas wie Hausschlappen. (Es war beinah schon Sommer. Der 18. Juni 1965.) Er untersuchte meinen Vater, wie, habe ich vergessen. Es brauchte keinen Arzt, um zu sehen, dass er tot war. Doktor Bloch füllte ein Papier aus. Dann gab er meiner Mutter und mir die Hand, nahm seine schwarze Ärztetasche und ging. Er kannte den Weg zur Haustür.
Der Rest des Tags ist mir kaum oder eigentlich gar nicht in Erinnerung. Überhaupt ist viel weißer Nebel um den Tod meines Papas herum. Vermutlich meldete ich diesen den zuständigen Behörden, kümmerte mich um die Todesanzeige und ging zu einem Bestatter – Matthys & Meyer? –, an dessen Verkaufsgespräch – ob dieser Sarg oder doch eher jener – ich mich undeutlich zu entsinnen vermag. – Ja, Werni Rihm rief ich auch an. Er war inzwischen Rektor des Realgymnasiums, in dessen Aula just am Abend des Todestags meines Vaters Ingeborg Bachmann lesen sollte (und auch las), die mein Vater hätte vorstellen wollen, so wie er das seit Jahren mit unzähligen andern Autoren getan hatte. Werni sagte Ingeborg Bachmann und dann – er übernahm die Vorstellung – den Zuhörern, dass mein Vater tot war. Ich ging nicht hin. Es sei eine schöne Lesung gewesen, eine ernste, sagte Werni später.
Ich weiß auch nicht mehr, was ich fühlte, und ob ich überhaupt etwas fühlte. Ich weiß nur, dass der Tod meines Vaters das irgendwann erwartbare Ende einer Krankheitszeit war, die vor Jahren schon begonnen hatte und während der mein Vater keinen Tag lang im Bett gelegen hatte. Er wollte uns – und sich selber – auf seinen nahen Tod durchaus aufmerksam machen. Aber wir nahmen die Botschaft nicht auf, wir wollten nicht verstehen, warum er sich und uns vier oder auch acht Mal pro Tag Johann Sebastian Bachs Kantate Ich freue mich auf meinen Tod vorspielte. – Er war immer kleiner geworden, immer gelber im Gesicht, und die tiefe senkrechte Stirnfalte, die zu Beginn nur hie und da angezeigt hatte, dass er kaum erträgliche Kopfschmerzen hatte, verschwand schließlich nie mehr. Er wuchs mit seinem Stuhl, seinem Tisch und seiner Schreibmaschine zusammen als seien sie ein Wesen. Einmal sagte er, er fühle sich, als sei er gehäutet worden; jede Berührung oder Bewegung schmerze ihn. Mich gemahnte er an eine Maus, die in der Falle saß. »Ich lebe nicht mehr lange«, das sagte er ein einziges Mal zu mir; gewiss mehr als ein Jahr vor seinem Tod. So dass ich es aufgab, seine oder eher meine Todesahnungen – die Bach-Kantate! – beim Wort zu nehmen. Deshalb auch der Zirkusbesuch, den ich mir bis heute übelnehme. Schuld. Meiner Mutter ging es vielleicht nicht anders. – Schwer zu sagen übrigens, was genau die Krankheit meines Vaters war. Alles, würde ich etwas vereinfachend sagen. Er hatte einen ganzen Haufen organischer Beschädigungen, deren Schmerzen sich vermischten. Chronische hämmernde Kopfschmerzen, die ihn jeden Morgen um vier Uhr weckten, am längsten schon. Neuralgien, Schwindelanfälle. In erster Linie aber wollte das Herz seine Arbeit kaum mehr verrichten, und die Nieren waren kaputt. Das hatte er selber bewerkstelligt, weil er, seiner Kopfschmerzen wegen, schaufelweise Schmerzmittel schluckte. Treupel, dessen Phenazetin ein erstklassiger Wirkstoff war, der den Nachteil hatte, die Nieren zu ruinieren. Mein Vater wusste das und ging mit sich selber eine Art Wette ein. Weniger Kopfweh gegen mehr Nierenschäden. Er probierte aus, wer länger durchhielt, der Kopf oder die Nieren. Es war der Kopf, oder auch nicht, denn die eigentliche Todesursache war ein Hirnschlag. – Viele, auch und gerade nahe Freunde, dachten erst, als er tatsächlich tot war, dass an seiner Erkrankung, die keiner so recht sehen wollte, doch etwas dran gewesen sein musste. Denn wenn etwas Stimulierendes um ihn herum geschah – ein anregendes Gespräch, ein guter Witz, der ihm erzählt wurde –, lebte mein Vater auf und verwandelte sich für eine Weile in beinah so etwas wie einen Gesunden. Als ich May zum ersten Mal nach Riehen brachte, ein, zwei Jahre vor seinem Tod, saßen wir im Wohnzimmer, mein Vater, May und
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