Reise zum Rand des Universums (German Edition)
war. Das Wort HIV existierte noch gar nicht. André erklärte es uns. Alle Stufen des Sterbens, von denen er ein paar schon hinter sich und manche noch vor sich hatte. Ein paar Monate später war er tot.) – Mit ihm verstand ich mich so gut, dass wir sogar zusammen in die Sauna gingen. Ein guter Ort zum Plaudern. Er klärte mich über vieles im Verlag auf. Über Ungereimtes, das ich sah, mir aber nicht erklären konnte, und über manches, das ich noch gar nicht bemerkt hatte. Wie tief die Konflikte zwischen Otto F. und dem Rest der katholischen Welt waren – einer, der sich von seiner Frau scheiden lassen wollte: allein das war eine Ungeheuerlichkeit – und dass Otto nicht nur lichte, sondern auch schwarze Seiten hatte. Ich hatte natürlich mitbekommen, dass er zu einem Jähzorn neigte, der umso überrumpelnder war, als er ja immer ( beinah immer eben) so leise sprach, dass ich mein Ohr zu ihm hinneigen musste. Aber plötzlich konnte er brüllen, dass die Mauern wackelten. (Ich war nie ein Augen zeuge; hörte ihn stets nur durch die Wand.) Von André erfuhr ich – er schien, so verstand ich ihn, mehr als einmal dabei gewesen zu sein –, dass Otto F. auch zu Hause brüllte, und zwar öfter als im Verlag, andauernd, und dass er mit seiner Frau in einer Art grob umging, die André beben machte. Seine Stimme zitterte vor Erregung. Ich glaubte ihm. André war, wenn um das Programm gerauft wurde, immer auf der Seite von Otto F.s Büchern.
Das Fass zum Überlaufen brachte Ernst Jandls Laut und Luise. Das war, in den Augen von Dr. Rast, wieder ein Buch von einem, den niemand kannte, dessen Texte ohne jeden Sinn waren beziehungsweise, wenn sie dann doch einen hatten, vor Blasphemien nicht zurückschreckten. Es gab ein langes Hin und Her zwischen Dr. Rast, Otto F. und Ernst Jandl. Briefe, Telefonate, Sitzungen. Aktennotizen, Otto F. war ein Meister der Aktennotiz. »Der guten Ordnung halber« hielt er fest, was der oder jener gesagt hatte. Er bewegte Ernst Jandl dazu, ein paar Kompromisse zu machen. (Jandl ließ ein Gedicht weg und veränderte ein zweites.) Endlich handelten Dr. Rast und Otto F. aus, dass Laut und Luise – heute ein Klassiker und Schullektüre – zwar erscheinen durfte, aber so, dass es niemand bemerken konnte. Das Buch durfte weder in der Programmvorschau noch in den Prospekten erwähnt werden. (So war es dann auch.) Auch wurde es vor den Mitgliedern des Verwaltungsrats versteckt, die sonst immer alle Bücher der Produktion erhielten. So sprachen alle von Jandl, nur von Jandl, wochenlang. Die Sekretärinnen, die Hersteller, der Mann im Lager, die Dame in der Telefonzentrale. Gewiss wusste bald auch der ganze Aufsichtsrat von diesem Geisterbuch, mehr als von allen andern Titeln. Einmal ging ich durch die Druckerei. Die Setzer drehten sich nach mir um, riefen »Jandl!?« und tippten sich mit den Zeigefingern gegen die Stirn. Ich lachte und rief auch »Jandl!«. Aber danach ging ich nicht mehr durch die Druckerei.
Bald darauf wurde Otto F. entlassen. Herr Dr. Rast bestellte mich in sein Büro und bot mir die Nachfolge an. Über das Gehalt würden wir uns gewiss einig werden. Ich schluckte leer und fragte mich – oder vielleicht sogar ihn? –, was ich falsch gemacht hatte, dass er so etwas überhaupt erwägen konnte. Ich kündigte. Otto F. und ich saßen dann ein letztes Mal im Aarhof, und Otto erzählte mir, dass er ein Angebot von Luchterhand habe und dass es ihm leidtue, mich nicht mitnehmen zu können. Auch mir tat es leid. Andrerseits war ich begeistert, von den Socken, als mich, ein paar Tage später, Siegfried Unseld anrief und mich fragte, ob ich in seinem Verlag arbeiten wolle. Ich sagte ja, ja gern. Wir trafen uns in seinem Büro im Suhrkamp-Haus am Grüneburgweg. Über mein Gehalt sei er mit sich einig, sagte er, 1200 Mark netto, den andern Lektoren zahle er ja kaum mehr, und das seien die Titanen der Branche. Ich solle nicht vergessen, dass im Tornister eines Lektors, der in seinem Verlag arbeite, ein Marschallstab stecke.
May und ich heirateten, nicht gerade überstürzt, aber doch so, als ob wir in den Krieg zögen, in ein fremdes Land, in dem es besser war, das Zusammenleben zu legalisieren. Unsere Hochzeitsreise – die »kleine«; die »große« folgte ein paar Monate später – führte uns von Basel nach Offenburg. Wir fuhren in meinem R4 , der jetzt unser R4 geworden war (keine Gütertrennung) und bis unters Dach mit meinem Kram beladen war, denn ich musste und wollte
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