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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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Art anfreundete.
    Dann wurde ich krank. Hohes Fieber. Ich suchte im Telefonbuch nach einem Arzt – in der Wohnung unten stand ein Telefon auf dem Fußboden – und stieß auf eine Ärztin, deren Praxis gleich um die Ecke war. Sie hob nach dem ersten Klingeln ab. Ja, rief sie, Unterlindau, kein Problem, kenne sie, kenne sie gut. Sie komme gleich rüber, in zwei Minuten sei sie da. Sie sei die Letzte in Frankfurt, die Hausbesuche mache. – Noch eine, die gern redete. Ich erklärte ihr, dass sie bis unters Dach hochsteigen müsse. – Tatsächlich tauchte ihr Kopf sozusagen sofort in der Treppenluke auf, wie der eines Vogels. Sie war eher 80 als 70, trug eine altertümliche Ärztetasche in einer Hand und untersuchte mich kundig mit Stethoskop und allem Drum und Dran. »Zunge!« Sie schaute mir in den Rachen. »Danke.« – Sie füllte ein Rezept aus und sagte, eine Tablette abends, eine am Morgen, und in ein paar Tagen sei alles wieder gut. Eine Grippe, das wisse ich so gut wie sie, dauere mit einem Arzt sieben Tage, ohne eine Woche. – Nun war sie eigentlich fertig und hätte gehen können oder müssen, aber sie begann stattdessen meine Notunterkunft zu inspizieren. Sie beugte sich zur Kiste hinunter, die mein Schreibpult geworden war, und las die mit Schablone gemalten Lettern und Zahlen darauf. Sie klopfte auf eine Taste der Schreibmaschine.
    Sie strich mit einem Finger über die Ziegel, kroch in dunkle Ecken, verschwand gar gänzlich am schwarzen Ende des Raums, tauchte wieder auf und öffnete auf dem Rückweg beiläufig eine Kiste, die der meinen wie ein Bruder glich. Andere Schablonen-Runen vielleicht. Ich sah nicht, was drin war. Gasmasken, oder Handgranaten. »Alles wie immer«, sagte sie, als sie wieder vor mir stand. »Wie überall.« Sie stieg auf einen Hocker, öffnete die Dachluke – es regnete nicht – und steckte den Kopf in die frische Luft. Ich sah sie nur noch bis zum Hals, der etwas von einem Lämmergeier hatte, oder von einem Truthahn. Sie rief etwas. Keine Ahnung, ob sie mit mir sprach oder den Frankfurtern eine Botschaft übermittelte. – Dann zog sie den Kopf ein, schloss das Fenster und stieg vom Hocker herunter. Jetzt murmelte sie vor sich hin und sah ihr Stethoskop an, als wisse sie nicht, wohin damit. Sie tat es von der rechten in die linke Hand und stand ein paar Sekunden lang bewegungslos. Als sehe sie etwas, was ich nicht sah. Plötzlich aber schob sie den Hocker in die Mitte des Raums, unter den Firstbalken, stieg erneut auf ihn, kicherte, stand dann bolzgerade, mit dem in die Höhe gereckten rechten Arm, und begann zu bellen. Ich staunte zu ihr hoch – eine bellende Ärztin – und begriff nach einigen Augenblicken der Ratlosigkeit, dass sie von IHM sprach. Von Adolf Hitler. Dass sie wie ER sprach. Dass sie ER war. Tränen liefen ihr die Wangen hinunter. »Seit sechs Uhr wird zurückgeschossen!« Mitten in einem Bell-Satz verstummte sie, stieg vom Hocker hinunter und sagte: »Alle. Einfach alle.« Sie wies mit einer Bewegung des Arms in das Dunkel des Estrichs hinein. »Die hier sowieso.« Sie machte so etwas wie einen Diener, oder war das ein Knicks? »Es war mir ein Vergnügen.« Sie stieg die steile Treppe hinab. Ich sah ihr nach. Ihr Kopf war auch von oben der eines alten Geiers. Die Tür fiel ins Schloss.
    Mit dem Urknall war es so. An einem Abend – Herr Bayer war mit dem Korridor fertig und tünchte nun die Küche – spannte ich ein Papier in die Schreibmaschine, die inzwischen eine Olivetti war, eine himmelblaue Olivetti, setzte mich auf den Hocker und schrieb. Zehn Sekunden vorher hatte ich noch nicht im Geringsten an so was gedacht. Der Hocker war viel zu hoch, ich krümmte mich zu den Tasten hinunter. »Aus meinem Kamin kommt Rauch«, schrieb ich. »Jetzt scheint die Sonne.« Ich schrieb weiter. »Mein Haus ist groß und windschief.« Ich tippte ohne die geringste Unterbrechung. Wort für Wort, Satz um Satz, Seite nach Seite. Jetzt, endlich, ließ die Maschine jenes rhythmische Trommeln hören, das in mir als fernes Echo lebte und mir zeigte, dass ich das Instrument richtig spielte. Wie die Urväter schon. Ich vertippte mich kein einziges Mal. Ich zögerte nie. Ich wagte kaum zu atmen – schrieb, spannte ein neues Blatt ein, schrieb weiter – und blieb schräg auf meiner rechten oder linken Arschbacke hocken, weil ich befürchtete, ich könnte den Zauber verjagen, wenn ich mich ungebührlich bewegte. Die Maschine könnte, wenn ich mich danebenbenahm, aufhören, das

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