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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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Otto F., selber vom ererbten Gift aus Schuld und Sünde tief durchdrungen, war der Erste und Einzige, dem der Glauben abhandengekommen war. Das schwarze Schaf der Familie, das mir aber eher wie ein Panther vorkam, ein Raubtier in einer Zwangsjacke. Ursprünglich waren die Publikationen des Walter-Verlags orthodox und brav gewesen (»Gott lebt«), später dann, zu Otto F.s Zeit und auch zu meiner, trugen sie Titel, die durchaus auch »Lebt Gott?« heißen durften, solange sie die Frage – nach einigem theologischem Herumgedruckse – mit Ja beantworteten. – Die Druckerei war groß und druckte, neben den Büchern des Verlags, auch zwei hauseigene Wochenzeitschriften, den Sonntag und die Woche, von denen die erste lammfromm war, die zweite aber nicht ohne Erfolg versuchte, der Schweizer Illustrierten Konkurrenz zu machen.
    Ich hatte auch und vornehmlich so viel Dampf gemacht, mein Studium abzuschließen, weil Otto F. mir schon Monate früher angeboten hatte, seine rechte Hand zu werden. (Er kannte meinen Vater, und wir hatten – Klaus Nonnenmann allen voran – gemeinsame Freunde.) Darum war ich im Frühjahr in Ottis Haus gegangen; und ich war mit diesem auf Anhieb so vertraut gewesen, weil ich es, vielleicht zwei Jahre vorher, schon einmal besucht hatte. Im Hochsommer damals, für einen Nachmittag und eine Nacht. Da war Otto F. noch mit seiner ersten Frau zusammen, mit Ruth. Wir schwatzten und plauderten und aßen und tranken, und dann schliefen wir alle drei in dem einzigen Raum, Ruth und Otto auf dem Schragen, ich auf einer Luftmatratze. Mitten in der Nacht ein schrecklicher Schrei. Ruth. Sie kreischte und wollte gar nicht mehr aufhören. Es war stockfinster. Otti und ich brauchten eine Weile, bis wir die Streichhölzer und die Kerze fanden. (Offenbar kam der elektrische Strom erst später.) Ruth stand starr im Bett, auf dem Bettschragen, in einem weißen Nachthemd, mit einem Gesicht, auf das sie beide Hände presste und das trotzdem schmerzverzerrt aussah. Sie schrie: »Da ist einer! Er hat mein Gesicht!« Sie schlang jetzt sogar die Arme um dieses Gesicht, von dem nun also gar nichts mehr zu sehen war. Wir riefen: »Wer denn?«, »Wo?«, »Wie?«, kriegten keine Antwort und kamen endlich zum Schluss, dass ein Siebenschläfer – eine plausiblere Erklärung fanden wir nicht, wenn wir die Existenz von Dämonen und Frauenschändern, die sich in Luft auflösten, ausschließen wollten – über Ruth hinweggerannt war, über ihr Gesicht. Wir legten uns wieder hin. Otto F. ließ die Kerze brennen, und irgendwann beruhigte sich auch Ruth, kroch unter ihre Wolldecke und schluchzte nur noch leise.
    Otto F. sah, auch wenn er mich an eine gefesselte Raubkatze erinnerte, wie ein Bub aus, obwohl er, als ich in den Verlag kam, beinah schon vierzig Jahre alt war. Er war immer in Eile, kam zu spät und ging, während er noch einen letzten Satz sagte, mit großen Schritten davon. Er sprach leise. Sein Gesicht war gerötet, als koche er innen. Er zündete sich eine Zigarette nach der andern an. Er wusste viel besser als ich über Bücher Bescheid – über die jedenfalls, die noch keiner kennen konnte, weil sie noch gar nicht veröffentlicht waren – und sagte mir trotzdem immer wieder, dass er furchtbar ungebildet sei. Sein philologisches Rüstzeug habe auf einem Fingernagel Platz. Deshalb brauche er mich. In der Tat waren andere Sprachen (Deutsch konnte er; und wie; er hatte damals schon zwei Romane geschrieben; Meisterwerke) nicht seine Stärke. Französisch ein bisschen, Englisch so lala, Italienisch null. Da war ich gewiss nützlich. Und ich konnte ihm akademischen Feuerschutz geben, wenn wieder einmal im Büro des Direktors – rings um den Tisch lauter doctores – eine Schlacht um einen Titel geschlagen werden musste.
    Ich trat also an einem frühen Morgen (im Herbst 1965) meine Stelle in Olten an. Es lag ein solcher Nebel über dem Ort, dass ich, aus dem Bahnhof tretend, den Gebäudeklotz des Walter-Verlags nicht sah, obwohl er mächtig direkt gegenüber am Aareufer stand. Auch die Aare selber sah ich bei jenem ersten Mal nicht, als ich mich über die Brücke tastete, von verschatteten Möwen beobachtet, die eine neben der andern auf dem Brückengeländer saßen, bis zur Pforte des Verlags, die endlich aus dem weißen Gewaber auftauchte. Als ich die Klinke drückte, flogen sie auf, alle aufs Mal, und verschwanden kreischend im Nichts. Am Abend aber saßen sie wieder da und zeigten mir den Weg zum Zug. Immer den Möwen

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