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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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Geheimnis zu offenbaren, das die ganze Zeit über in ihr gesteckt hatte und das sie nun preisgab. – Tatsächlich schrieb nicht ich, sie schrieb. Es. Ich hielt nur die Fingerkuppen auf jene Tasten, die sie gedrückt sehen wollte. – Kann sein, es muss so gewesen sein, dass ich dann irgendwann doch aufstand, um aufs Klo zu gehen oder eine Suppe zu essen. Mag sogar sein, dass ich schlief und arbeiten ging und am nächsten Abend weiterschrieb. In meiner Erinnerung habe ich den Text – diese Eruption, die die längste Zeit in meinem Innern bereitgelegen und auf den richtigen Augenblick gewartet hatte, um ans Tageslicht zu treten – an einem Stück geschrieben, gebannt, erregt, sorgfältig, überrumpelt, wachsam, in heißem Glück. – Dann war die Geschichte erzählt. Den letzten Satz, seine letzte Hälfte, schrieb ich in Großbuchstaben. » DASS WIR EUCH WEDER SEHEN NOCH HÖREN WERDEN IN ZUKUNFT .« Mir war nicht klar, dass die Majuskeln meinem Triumph Ausdruck verleihen sollten. Meiner Erleichterung. Aber so war es. Ich legte die Blätter in meinen Koffer, unter die Hemden und die Unterhosen, reckte und dehnte mich und ging ins ›Eppstein-Eck‹, ein Bier trinken.
    DIE Wohnung war irgendwann einmal doch fertig geworden, und May war auch da. Ja, wir hatten Herrn Bayer schließlich doch vor die Tür gesetzt und seine Malerei selber zu Ende gebracht. Wir malten alle Türen rot, dunkelrot (in die trocknende Farbe der Schlafzimmertür ritzte ich ein Herz und schrieb »Mao« daneben.) Ein nicht sonderlich großer Miettransporter von Avis oder Hertz hatte die paar Möbel oder Teppiche gebracht, die wir aus der Schweiz mitnehmen wollten. Wir hatten auch einen Tisch gekauft. Stühle. Ein Bett. Auch wir benutzten die Badewanne nicht, sondern gingen ins Stadtbad Mitte.
    May, nun ohne Job, ging oft ins Sigmund-Freud-Institut an der Myliusstraße, ein paar Minuten von unserer Wohnung entfernt, und setzte ihre Ausbildung als Psychoanalytikerin fort. Sie lernte Deutsch wie ein Teufel und war über ihr anfängliches »Guten Tag« und »Streng verboten« weit hinaus. Immerhin, man hörte noch, dass sie aus Le Locle stammte. Sie hätte gern gearbeitet, Geld verdient, denn mit meinen 1200 Mark netto machten wir keine großen Sprünge. So kam es, dass sie eines Tags durch eine Straße Frankfurts bummelte, ziellos oder um einzukaufen, und an einem Haus vorbeikam, an dem ein Schild hing, auf dem »Erziehungsberatungsstelle der jüdischen Gemeinde Frankfurt« stand. Sie klingelte. Ein Mann öffnete die Tür. May sagte: »Ich heiße May. Ich kann nicht gut Deutsch. Meine Ausbildung ist noch nicht fertig. Ich bin keine Jüdin. Ich möchte bei Ihnen arbeiten.« Sie wurde eingestellt, auf der Schwelle noch, sozusagen. Der Mann unter der Tür war der Leiter der Institution, Günther Feldmann, und die beiden arbeiteten viele Jahre zusammen.
    Es war inzwischen Sommer geworden. Wir brachen zu unserer großen Hochzeitsreise auf. Die kleine, die nach Offenburg, war doch etwas zu klein gewesen. Auch diesmal: R4 , Zelt, Luftmatratzen. Wir fuhren durch ganz Frankreich südwärts, nur und systematisch auf Nebenstraßen. Auf routes départementales oder gar auf den chemins vicinaux, die uns am liebsten waren. Das konnte man (das kann man immer noch) nur in Frankreich: über Hunderte von Kilometern fahren, ohne je eine Hauptstraße zu benutzen. Gar eine Autobahn. Wir hielten an, wo es uns gefiel, aßen in Bistros mit Papiertischtüchern und besichtigten gefühlte hundert romanische Kathedralen, Kirchen, Kirchenruinen und von Efeu zugewucherte Kapellenreste, für die May eine nicht zu täuschende Spürnase besaß. Le tilleul d’Abélard, der vielleicht auch eine chêne war, eine Eiche und keine Linde, und unter der Abélard seine Héloïse geküsst hatte. Auch wir küssten uns, wenn wir Lust hatten, an Waldrändern oder unter Olivenbäumen. Avignon, Nîmes, Arles, Carcassonne. Endlich fuhren wir nach Andorra hinauf, das sich als so hässlich erwies, dass wir ohne anzuhalten hindurch- und über eine kurvenreiche Bergstraße nach Spanien hinunterfuhren, nach Katalonien. Wir landeten in Barcelona, unserm Ziel, und stellten das Zelt auf einem Campingplatz auf, der im Schatten einer gigantischen Ölraffinerie stand. Ein rauchendes Gewirr aus Röhren und Schloten, zwischen denen, im Hintergrund, das Meer glänzte.
    An diesem Abend – das Zelt vertäut, die Luftmatratzen aufgeblasen – holte ich mein Manuskript aus dem Koffer. Ich hatte es nicht vergessen,

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