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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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zitterte ich um die Vögel, die ahnungslos und unbekümmert herumflogen. Mal saßen sie hier auf einem Ast, mal dort. Wenn ihnen drüben etwas Entsetzliches geschah! Ich bemitleidete die Bäume, die das Pech hatten, auf der andern Seite wurzeln zu müssen, um Meter nur getrennt von ihren Artgenossen, die ein gütiges Schicksal auf unserer Seite wachsen ließ. – Auch gab es keine Autos. Die Milch wurde von einem Wagen gebracht (»Banga«), der von einem Pferd gezogen wurde, das von ganz allein wusste, wann es innehalten musste. Doch, Herr Doktor Massini hatte ein Auto. Einen Opel Olympia mit einem Holzvergaser, der, eine Art Kochkessel, am Heck hing. (Herr Doktor Massini sagte alles zweimal. Alles, immer. »Guets Tägeli, guets Tägeli«, sagte er, wenn er das Zimmer betrat. »Was ist uns denn heute passiert? Was ist uns denn heute passiert?« Dann musste ich ihm die Zunge herausstrecken – Löffel, »Ahh!«, Würgreiz –, und er prüfte mein Gehör. »Einundzwanzig«, flüsterte er. »Einundzwanzig.« Er sagte immer »einundzwanzig«, so dass ich auch dann ein gutes Gehör attestiert bekam, wenn ich ihn nicht verstanden hatte.) – In den Nächten zogen wir dicke schwarze Vorhänge vor die Fenster, und tatsächlich klingelten einmal zwei Kontrollpersonen (Hilfsdienstler, die zu nichts anderem zu gebrauchen waren) mitten in der Nacht an der Haustür und wiesen streng auf einen winzig schmalen Lichtstreif, der neben den Vorhängen ins Freie drang. Selbst meine Mutter, überordentlich und obrigkeitshörig, tippte sich an die Stirn, als sie wieder abgezogen waren. – Wenn ich einmal nachts auf die Straße durfte (an Weihnachten, wenn wir von den Großeltern oder Tante Nettel zurückkamen), erregte mich die völlige Dunkelheit. Es war, als habe Hitler sich auch das Licht der Sterne verbeten und als gehorche ihm, wie schon die Erde, auch der Himmel. Hie und da kam mir ein Glühpunkt entgegengeschwebt, die Zigarettenglut eines Passanten, der uns ausweichen konnte, weil auch mein Vater sein Positionslicht vor dem Mund hertrug. Die Straßenbahn tauchte aus dem Nichts auf. Auch sie hatte vorn ein blauschimmerndes Licht. Innen dann (schwarze Vorhänge auch hier) war es hell. – Der Garten war eine Plantage. Kartoffeln und Kohlköpfe bis zum fernen Zaun. Alle außer meinem Vater halfen mit. (Er wurde nach einem einzigen Versuch freigestellt, nachdem er eine Gießkanne über Erwins Hosen gegossen, eine Schubkarre voller Unkraut umgekippt und ein halbes Erdbeerbeet zertrampelt hatte.) Meine Mutter aber wurde eine derart passionierte Gärtnerin, dass sie mehr oder weniger immer im Garten zu finden war. Ich war stets in ihrer Nähe. Schürze, Gießkanne, Schaufel. Gartenschuhe, die die alten Sonntagsschuhe von Thomas waren und dreckig bleiben durften. Ich verbrachte Stunden zwischen Bohnen und Erbsen und sammelte Kartoffelkäfer in eine Henkeltasse. Meine Mutter kauerte bei den Zucchini oder Zwiebeln. Irgendwo war auch Erwin. (Es gibt eine Erinnerung – ich beim Wasserfass –, wie meine Mutter und Erwin zwischen den Tomatenstauden stehen, nah beieinander, zwischen knallroten Früchten, und erregt aufeinander einreden. Erwin dann eilig ins Haus gehend. Ein Krach? Was sonst? Ich jedenfalls kauerte mich hinter dem Fass nieder, als hätte ich etwas gesehen, was ich nicht hätte sehen dürfen.) – Es waren die Jahre, in denen die Chemie ihre ersten Triumphe feierte. Meine Mutter hantierte ohne die geringste Sorge mit Kanistern voller tödlicher Säuren und mit Giftpulversäcken herum – ich mit ihr, mitten in dem Gesprüh und den Pulverwolken drin – , dies gewiss auch, weil Basel eine Chemiestadt war und ihr Vater – ein Chemiker im Labor zuerst, am Ende ein Vizedirektor – in der CIBA gearbeitet hatte. Sie schüttete so viel Pulver über die Kartoffeln, dass ich hätte meinen können, es habe geschneit, und aus einem Metallrucksack pumpte sie ein Gesprüh über den Blumenkohl oder eher noch die Him- und Brombeeren, bis diese blau waren. Alles wurde blau, die Schuhe, die Hosen, die Wege, die Haare, der Schuppen, die Mäuse, die auf ihren ebenfalls blauen Wegen von Loch zu Loch flitzten. Ich schleckte damals so viel Gift, atmete es ein, dass ich den Umweltdreck, dem wir heute ausgesetzt sind, als die reine Natur empfinde. Es war die Zeit, in der die Bauern – und also auch meine Mutter – alle Dosierungen, die auf der Packung empfohlen wurden, verdoppelten. Denn doppelt so viel war auch doppelt so gut. – Irgendwie

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