Reise zum Rand des Universums (German Edition)
anhatten. Hielt einer einen Revolver in der Hand? Als sie nahe bei mir waren, rief der Große, ohne seine Schritte zu verlangsamen: »Wohin ist er?« Ich deutete zum Weg nach Binningen. Der Hund wusste es auch schon. Die beiden Verfolger bogen ab und rannten ebenfalls dem Wald zu. Ich sah ihnen nach. Ich hatte meinen ersten Verrat begangen.
DER Krieg ging dann so weiter. In den Nächten brummten die Geschwader der britischen Bomber über unser Haus hinweg. Ein tödlich drohendes Donnern. (Als ich Jahre später den Film Der längste Tag ansah, haute mich der Anfang fast aus dem Sessel. Ich war darauf nicht gefasst. Denn noch bevor das Filmbild überhaupt sichtbar wurde – sicher drei, vier Sekunden lang –, war nur dieses bedrohliche Himmelsgebrumm zu hören. Für ein paar Augenblicke lang lag ich wieder in meinem Kinderbett und presste mit aller Kraft die Augen zu, um das Todesgedröhn nicht hören zu müssen.) – Diese Bomber oder sonstwer warfen Tausende metallglitzernder Stanniolstreifen ab, die am Morgen überall im Garten lagen und die ich einsammelte. (Sie sollten das Radar der Wehrmacht irritieren, aber ich habe bis heute nicht begriffen, wie.) – Einmal auch waren wir auf der Dachterrasse, und fern, hinter Kembs, stürzte ein Flugzeug aus dem Himmel. Eine Rauchfahne. – Und an einem ganz normalen Nachmittag endlich dröhnte unvermittelt ein gänzlich neuer Lärm aus der Stadt zu uns herauf. Keine Luftschutzsirenen zuvor, da bin ich mir sicher, auch die Sirene auf dem Radiostudio, ein schwarzer Topf auf einem schwarzen Metallstab, wurde überrascht. Ein Desaster, etwas ganz Tolles. Ich zögerte keinen Moment lang und fegte auf dem Fahrrad meiner Mutter die Kehren der Bruderholzstraße hinunter. (Ich war jetzt sieben Jahre alt.) Ich fand den Ort des Geschehens sofort. Die Tellstraße war bombardiert worden. (Die Geleise des Bahnhofs auch, das erfuhr ich später.) Rauch, Trümmer. Viele Menschen. In ein Haus konnte ich hineinsehen, weil die ganze Vorderfront fehlte. Eine Stehlampe auf einem Fußbodenrest, oben im ersten Stock. Ein Stuhl. (In dem Haus hatte ein Lehrer meiner späteren Schule gewohnt, Max Wagner, ein Mann von hoher Eleganz, dessen fixfertige Dissertation dem irregeleiteten Angriff der Amerikaner zum Opfer fiel und die nochmals zu schreiben er nicht gewillt war.) Als ich am späten Abend endlich wieder zu Hause war, rot vor Aufregung, waren meine Eltern so angstdurchschüttelt, dass sie nicht einmal mit mir schimpften. (Oder bin ich doch erst am nächsten Tag hinuntergefahren? Ich konnte nämlich ungehindert in der Straße herumlaufen, und die Menschen um mich herum waren eher Neugierige als Polizisten, Sanitäter oder Feuerwehrleute. Meine Eltern waren vielleicht so ruhig, weil sie gar keine Angst um mich hatten.) – An den 8. Mai 1945 habe ich keine besonderen Erinnerungen. Kirchen gab es bei uns oben keine – die Glocken läuteten im ganzen Land, sagt man –, und falls Mama eine besondere Flasche Wein öffnete und Papa für einmal mittrank, deutete ich das falsch.
DER Schock kam nach dem Ende des Kriegs. Ich weiß nicht, wann genau. Bald. Mein Vater zeigte mir die Bilder von Auschwitz. Sicher hatte er sie eben erst gekriegt, woher auch immer, gewiss war er erschüttert. Aber ich weiß nichts mehr von ihm, von seinem Entsetzen. Wir waren im Wohnzimmer, das glaube ich noch zu wissen, die Bilder lagen auf dem Kaffeetisch. Ich sehe mich – ein Filter der Erinnerung –, wie ich die Bilder sehe, in einer Art Schreckstarre. Ein Bild nach dem andern. Mein Vater schwieg und ließ mir jede Zeit der Erde. Die Brillen. Die übereinandergestapelten Leichen. Die nackten Menschen am Rand der Grube, in der schon andere lagen; hinter ihnen die schwarzen Mörder mit ihren Gewehren. Der Bub mit dem verlorenen Blick und dem Judenstern. Die Befreiten der KZ s, beinah schon tot und so erschöpft, dass in ihren Augen auch jetzt keine Hoffnung war. Kann sein, dass mein Vater mir dann erklärte, was ich sah. Es war sicher so. Ich war ja kaum acht Jahre alt. Aber ich weiß nur noch, was die Augen sahen. Ich sehe diese Bilder heute noch mit den Augen von damals. – Eine Weile lang, groß geworden, dachte ich, dass ich sie zu früh gesehen hatte. Heute weiß ich, dass ich sie gerade zur rechten Zeit sah, zu ihrer Zeit, denn ein solches Entsetzen auch nur eine Minute lang zu verschweigen wäre unmöglich gewesen und hätte unsere Welt verstummen lassen. Vielleicht hat es mein Vater einen Tag lang
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