Reise zum Rand des Universums (German Edition)
Batterie hinunterpolterte. Nora juchzte. Wir rannten den Weg nach Hause zurück, als seien wir auf der Flucht. Ich weiß bis heute nicht, was genau Hélène gesehen hatte – begriffen hatte sie jedenfalls –, aber ich weiß inzwischen, wer dort vom Turm in die Tiefe gesprungen war: Lore Berger, jene junge Frau, die zuvor ein Buch geschrieben hatte, in dem sie ihren Geliebten anflehte, sie nicht zu verlassen. Sonst. Es hieß »Der heilige Hügel«, und dieser heilige Hügel war der, auf dem der Wasserturm stand. Wie ich hatte sie jeden Tag auf ihn geschaut, von der andern Seite her. Es war der 14. August 1943.
Hélène ließ den Kinderwagen mit Nora drin vor der Haustür stehen – mich sowieso – und stürzte »Madame! Madame!« schreiend in die Wohnung. Ich rannte die Treppe hoch bis unters Dach, wo eine kleine Terrasse hoch über dem Abgrund schwebte. Ich hielt immer noch den Eimer umkrallt. Fern, jenseits des weiten Felds, leuchtete der Wasserturm, und an seinem Fuß drängte sich immer noch der Menschenknäuel. Selbst von hier aus sah ich das zähe Kämpfen der Frauen. Auf der Terrasse des Turms, hoch oben unter der schimmelgrünen Metallhaube, bewegten sich ein paar Köpfe. Auch sie drängten sich, beugten sich über die Brüstung. Ich ließ keinen von ihnen aus den Augen, als befänden sie sich in einer Gefahr, von der sie nichts wussten. Was sahen sie von da oben? Das Blut, auch sie? Später kam auf der Straße, nah unter mir, ein Mädchen näher. Bea Geiser, ich erkannte sie auch von da oben. Sie hielt eine Tasse in der Hand (das Mehl, das meine Mutter der ihren ausgeliehen hatte) und steuerte unsere Gartentür an. Ich ging zum Waschbecken im Korridor, füllte den Eimer randvoll mit Wasser und schüttete dieses, als Bea tief unter mir der Tür entgegenhüpfte, auf sie hinunter. Das Wasser stürzte wie ein glasklarer Würfel nach unten und zerspritzte auf ihrem Kopf. Sie schrie auf, drehte sich um – kein Mehl mehr in der Tasse – und rannte davon, klatschnass.
UM diesen Frieden herum war Krieg. Er war in Basel nicht zu sehen, kaum, oder eben doch, denn auch für ein Kind – gerade für ein Kind – waren überall seine Zeichen zu erkennen. Meine Eltern sprachen ja auch vom Krieg. Von Göbbels, von Göring und von Himmler. Ich wusste, dass Hitler der Böseste dieser Bösen war. Aber auch die Stimme des Nachrichtensprechers von Radio Beromünster – eigentlich ein Guter in einem guten Sender – bedeutete Gefahr und Bedrohung. Ich fröstelte, wenn ich sie hörte. Jeden Tag um halb eins dröhnte sie aus jedem Haus der Straße. Jeder hörte die Mittagsnachrichten: die Schaubs, die Fuchs’, die Geisers, die Stauffers. Sogar die weiße Dame. Egal wo ich war, immer war um Punkt halb eins zuerst das Zeitzeichen zu hören – zwei gleiche Töne, ein höherer –, und dann kam die Stimme des Nachrichtensprechers: »Die Nachrichten der Schweizerischen Depeschenagentur.« Nie war die Stimme krank, nie in den Ferien. Sie war verlässlich wie der Krieg selber und verstummte erst, als auch dieser vorüber war. – Überhaupt war das Radio voller bedrohlicher und herrlicher Geheimnisse. Der Marconi war sowieso schon, auch ohne Krieg, das Herz des Hauses, weil mein Vater Tag und Nacht Schallplatten anhörte. Aber er war auch so groß – mächtig wie eine Truhe –, dass alle bambini ticinesi in ihm Platz fanden. Wenn sie La montanara sangen! Hörte ich aus diesem Radio tatsächlich auch Hitler? Oder verwechsle ich inzwischen sein Bellen mit dem meines Vaters, der immer wieder einmal – wenn die Wut ihn sprengte – zu lautstarken Parodien ansetzte? Dann stand er in der Mitte des Wohnzimmers oder auch am Küchentisch, hielt einen Arm erhoben und brüllte: »Wollt ihrr den totalen Krrieg?« Die Freunde um ihn herum lachten, meine Mutter lächelte und war doch froh, wenn er wieder aufhörte. Ich staunte zu ihm hoch und fürchtete mich ein bisschen. – Einmal kam aus dem Marconi die Stimme meines Vaters selbst. Ich war allein im Wohnzimmer, und kein Mensch hatte mir das Ereignis angekündigt. Meine Mutter schien von dem Wunder auch nichts zu wissen – oder war es für sie keins? –, denn sie fuhrwerkte in der Küche oder im Gemüsegarten herum. Ich hockte wie vom Donner gerührt ganz nah am Lautsprecher und rätselte darüber, wie mein Papa in den Marconi hineingekommen war. In diese Kiste, die zwar für die bambini ticinesi ausreichen mochte, aber doch nicht für meinen mächtigen Vater! Seine Stimme war
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