Reise zum Rand des Universums (German Edition)
war plötzlich Hélène im Haus, die so sehr wie Simone war, dass deren Verlust kaum mehr weh tat. Auch sie sprach ausschließlich französisch, und ich verstand sie ebenso gewiss wie Simone. Auch sie war rondelette, pummelig, wenn auch ein bisschen weniger. Ihre Haare waren auch nicht so rot wie die Simones, rotblond eher; aber die Frisur war die gleiche. Hélène kicherte und giggelte auch gern, und als sie sich zum ersten Mal mit mir im Gras wälzte, rochen ihre Brust und ihr Bauch ebenso wunderbar. Sie waren aus dem gleichen Dorf, Schwestern oder eher Cousinen, denn sie hatten verschiedene Nachnamen (Pache, Mermod). Hélène hatte Simone sogar etwas voraus. Sie mochte nämlich Lebertran, sie liebte ihn abgöttisch und schlabberte jeden Morgen dankbar die eigentlich für mich bestimmte Portion (einen randvollen Esslöffel). So teilten wir gleich vom ersten Tag an ein Geheimnis. – Mehr noch als Simone liebte Hélène die Spaziergänge zum Wasserturm. Jeden Mittag zogen wir los (es war bald ein heißer Sommer). Es kann sein, dass Nora auch dabei war, in ihrem Kinderwagen liegend. Ich jedenfalls schlurfte in meinen braunen Bata-Sandalen durch den Staub des Fußwegs, bis sie puderweiß waren. Wolken bei jedem Schritt. Ich bückte mich zu jeder Kamillenblüte am Wegrand und zerrieb sie zwischen meinen Fingern. Schnüffelte. Saugte Kleeblüten aus. Pflückte Kornblumen. Erschrak, wenn ein Heuhüpfer jäh hochsprang. (Es gab die kleinen, die nach allen Seiten wegsprühten, und zuweilen auch einen der riesengroßen grünen.) Ich trieb wie ein Hirte, dessen Stock ein Grashalm war, einen Käfer vor mir her. Natürlich schaffte der keine zehn Zentimeter in einer Viertelstunde und kam auch immer wieder vom Weg ab. Hélène war in der Zeit längst ein ferner Punkt weit vorn geworden, bei der Batterie schon, verwarf die Arme und rief etwas, was der Wind so verwehte, dass ich es kaum mehr verstand. »Allons, mon chou!« oder »Viens, on n’a pas toute la journée!« Ich ließ alles stehen und liegen und rannte in ihre ausgebreiteten Arme. Sie lachte und hob mich auf ihre Schultern, hielt mich an den Beinen fest, sprang mit heftigen Sprüngen vorwärts und wieherte. Sie war Pferd, Esel und Ziegenbock in einem. Zuweilen auch war sie ein Elefant, hielt einen Arm wie einen Rüssel vors Gesicht und ging wiegend. Sie trompetete. Ich krähte vor Glück und steuerte sie an ihren großen Ohren. Der Kinderwagen, falls da ein Kinderwagen war, schlenkerte irgendwie mit. – Um den Wasserturm herum saßen auf einer sitzhohen Mauer Frauen. Mütter, dann und wann auch eine Großmutter und ähnliche Kindermädchen wie Hélène eins war. Ihre Kinder spielten in dem Rund zwischen der Sitzmauer und dem Turm. Wir schaufelten, jeder für sich allein und doch alle gemeinsam, unsere Eimer mit Sand voll und schütteten fremde Gräben zu. Wir bauten Straßen und fuhren, auf den Knien rutschend, mit unsern Dinky-Toys-Autos um Kurven und über Brücken. (Mein bestes Stück war ein rotes Feuerwehrauto mit einer Leiter auf dem Dach, die es bei einem Einsatz auf ebendiesen Straßen verlor.) – Einmal, als wir munter wie immer dem Turm entgegengingen, standen, ganz anders als sonst, alle Mütter, Großmütter, Au-pair-Mädchen und Kinder dicht aneinandergedrängt in einem Klumpen. In einem Menschenknäuel. Niemand sagte ein Wort, ganz anders als sonst, und alle kämpften Hintern an Hintern, stumm drängelnd, miteinander, um besser etwas sehen zu können, von dem ich keine Ahnung hatte, was es sein könnte. Eine der Omas, eine silberhaarige, stand auf der Mauer und reckte den Kopf. Hélène stellte mich sofort auf den Boden – ließ den Kinderwagen stehen, wo er war – und warf sich auch in den Frauenhaufen. Ich rannte hinter ihr drein und wühlte mich zwischen all den Beinen hindurch. Vor mir ein Wald, ein Beinwald, in dem einzelne Kinder zwischen den Stämmen steckten und sich, ebenso stumm wie die Großen, dem Licht auf der andern Waldseite entgegenkämpften. Ich hangelte mich von Wade zu Wade – mit Strumpf, ohne –, und plötzlich sah ich: Blut. Eine Blutlache, entsetzlich rot, im weißen Sand. Nichts sonst, nur das viele Blut und den Sand. Ich wollte näher an das Schreckliche heran, aber Hélène, die vielleicht aus ihrer hohen Höhe noch mehr und Grässlicheres sah als ich, kriegte mich zu fassen und riss mich ins Freie zurück. Sie schleifte mich mit sich und stieß den Kinderwagen so heftig vor sich her, dass er steuerlos die Stufen zur
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