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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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versucht. Aber er war keiner, der eine solche Ungeheuerlichkeit aushalten konnte, wenn nicht alle andern, auch ich, davon wussten. – Nora? Sie war kaum vier. (Und Hiroshima dann. Die kahle Ebene, die einmal eine Stadt gewesen war. Die Mauer mit dem eingebrannten Schatten.)
    IN dieser Zeit wurde ich krank. Nein, zuvor, kurz zuvor. Ich war fünf oder auch schon sieben Jahre alt. Jedenfalls war es heiß und sehr hell. Unerträglich hell. Wenn auch nur ein kleiner Sonnenstrahl an den zugezogenen Vorhängen vorbei mein Auge erreichte, heulte ich auf vor Schmerz. Wenn meine Eltern später von dieser Krankheit sprachen, nannten sie sie zuweilen Hirnhautreizung, dann wieder Hirnhautentzündung. Ich hatte hohes Fieber und delirierte. Bilderwelten überschwemmten mich, es war, als ob ich mich im Kreis drehte oder in einem Strudel wirbelte. Im Mahlstrom meines Hirns, der mich nach unten saugte und mich verschlingen wollte. Ich schlug um mich, gab mich hin, erschöpft, wehrte mich erneut. Ein paar von den Fratzengespenstern, die mich heimsuchten, die mich bedrängten, die mich umbringen wollten, werden auch heute noch in Panikanfällen (tagsüber) oder Albträumen (nachts) in mir hochgespült. Schattengesichter, oft in ein grünes Licht getaucht, schwimmen dann an mir vorüber, bilden sich immer neu, verändern immerfort ihre Gestalt und ihre Gesichtszüge. Klein und fast anmutig sekundenlang, dann wieder riesig mit aufgerissenem Maul und schwarzen Zähnen. Immer noch starre ich die Gespenster von damals mit einer Mischung aus panischem Schrecken und erregter Neugier an und hoffe, eine dieser Erscheinungen für ein paar Sekunden so festhalten zu können, dass ich sie erkenne. Als könnte sie die Lösung für ein Geheimnis sein, dessen Inhalt ich nicht einmal erahne. Aber immer lösen sich die Bilder auf, bevor ich sie mir genauer ansehen kann.
    Ich hatte einen Traum – mein Fieber war auf 42   Grad hochgeklettert –, in dem meine Mutter und mein Vater kopfüber im Klo hingen, dessen Schüssel sie bis zum Rand füllten und dessen Spülwasser ich dennoch sah. Es rann unaufhörlich. Vater und Mutter sahen wie Zuckerhüte aus – ich hatte noch nie einen gesehen –, sie waren Zuckerhüte und lösten sich in dem Wasser unaufhaltsam auf. Sie wurden kleiner und kleiner, vom Kopf her weggeschwemmt, bis sie ganz verschwunden waren. Oder eben doch nicht ganz, denn ich lebe ja noch. Ich schrie, schrie und krallte mich am Arm meiner Mutter fest, die neben meinem Bett saß und vielleicht auch der Vater war. Ich sagte immer wieder, flehend, beschwörend, dass ich nicht sterben wolle, »weil heute Freitag ist«. Es war ein Freitag, das haben mir meine Eltern später bestätigt. Der Sinn des Arguments ist mir bis heute verschlossen geblieben. Aber immer noch ist der Freitag ein besonderer Tag, voller magischer Gefahren. – Ich brauchte lange Zeit, mich zu erholen (als ich, im Esszimmer auf einer Couch liegend, keinerlei Licht ertrug), und war dann doch eines Tags wieder im Leben zurück. Herr Doktor Massini zog die Vorhänge zurück. »Jetzt brauchen wir doch wieder ein bisschen Sonne«, sagte er. »Jetzt brauchen wir doch wieder ein bisschen Sonne.« Ich setzte mich im Bett auf, blinzelte. »Einundzwanzig«, sagte ich. »Einundzwanzig.« Herr Doktor Massini lächelte und nickte zweimal. Ich ging, auf wackligen Beinen und im Nachthemd, zum Fenster und sah den Opel Olympia, wie er mit seinem Holzvergaser am Heck davonrauchte.
    FRANZJOGGI wurde mein bester Freund. Mein erster und vielleicht – trotz Max, viel später – mein bester bester Freund. Nie mehr später war ich so selbstverständlich hingegeben. Franzjoggi wohnte – und wohnt heute noch! – in dem Haus, das unserm am nächsten stand, in Rufweite auf der andern Seite eines breiten Ackers, auf dem Getreide oder Klee und zuweilen auch nichts wuchs, nah genug immerhin, dass wir einmal eine Seilbahn aus Franzjoggis Estrich zu meinem Parterrefenster zu bauen versuchten. Sie war gewiss die längste Seilbahn der Welt, des Bruderholzes auf jeden Fall, und ich kann mich nicht erinnern, dass sie jemals funktionierte. Allein schon das Montieren des Tragseils (eine ganze Schnurrolle reichte nicht aus) war eine technische Herausforderung. Immer wieder verhedderten sich Trag- und Zugseil, die Kabine (eine rotbemalte Schuhschachtel mit Fenstern und einer Schiebetür aus Karton) kippte bei der Jungfernfahrt und ließ die Passagiere (zwei meiner Indianer aus so etwas wie braunem Gips und

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