Reise zum Rand des Universums (German Edition)
die vertraute, das schon; gleichzeitig war sie kälter, ernster, gewichtiger. Fremder. Ich verstand kein Wort. – Dann trat mein Vater ins Zimmer – aus den Lautsprechern kam inzwischen ein lüpfiger Ländler, aber mein Ohr klebte immer noch an ihrem Jutestoff –, und es stellte sich heraus, dass er im Studio am untern Ende der Marignanostraße gewesen und dass es möglich war, seine Stimme von dort bis in unsern Radioapparat zu schicken. Das Studio war so nah, dass ich auch später, wenn er wieder einmal vor dem Mikrophon saß, gar nicht bemerkte, dass er weg war. Er wurde immer wieder zu irgendwelchen Kommentaren oder Diskussionen oder Vorträgen eingeladen, vielleicht, weil er auch im letzten Augenblick noch in Hausjacke und Pantoffeln ins Studio hinunterlaufen konnte. Damals waren die Sendungen live. Ein paar Mal ging ich mit ihm. Eine riesige Treppe zum Eingang hin, das Haus dann, hallenhoch, so still, als sei niemand drin. Im Senderaum einer der freundlichen Redakteure, die alle Herr Hausmann hießen. (Als ich, eine Generation später, auch in diesem Studio arbeitete, war Herr Hausmann immer noch da. Der gleiche oder sein Sohn, das habe ich nie herausgekriegt.) Ja, Nora wurde mit allen Hausmännern und dem ganzen Studio so vertraut, dass sie ins Studio spielen ging und einmal, kaum fünf Jahre alt, zusammen mit ihrer Freundin Regula (»Regeli«) sogar, von niemandem beachtet, in den großen Festsaal hineinspazierte, wo auf einem langen Tisch Speisen und Getränke auf wichtige Gäste des Hauses warteten. Nora und Regeli aßen von dem und jenem und vor allem von einer wundervollen Schokoladencreme, die sie aus einer großen Schale löffelten. Die bald hereintretenden Damen und Herren wunderten sich ein bisschen über die beiden Mädchen – und darüber, dass manche der Sandwiches oder Canapés angebissen waren –, und einer der Herren Hausmann fragte sie, was sie denn da trieben. Nichts, sagten sie im Chor. Spielen. Ihre verschmierten Münder verrieten sie, und mit dem Im-Studio-Spielen war es aus. – Herr Hausmann überfuhr auch Nora mit seinem Auto ums Haar. Kreischende Bremsen, es reichte gerade noch. Wir alle waren sehr aufgeregt, nur Nora nicht, die sagte, im Auto sei ja Herr Hausmann gewesen, der könne sie gar nicht überfahren. »Der kennt mich doch.« – Auf das Dach des Studios war ein riesiges weißes Kreuz in einem roten Feld gemalt, um den alliierten Bombern zu zeigen, dass wir Freunde waren. Keine Deutschen.
Von der Dachterrasse aus – oder auch, wenn ich am Gartenzaun beim Nussbaum vorn stand – sah ich bis ins Elsass und, wenn ich den Blick nach rechts wandte, ins Markgräflerland. Vor mir eine Ebene, in deren Mitte der Rhein glitzerte und die sich, weit im Norden, unter Gewitterwolken verlor, oder in der Polarnacht. Links, blassblau, die Hügel der Vogesen. Näher, rechts, der Isteiner Klotz, ein weißer Felsen, von dem wir mit Respekt sprachen, weil in ihm ein Geschütz verborgen war, das bis zu unserm Haus hätte schießen können und dies – mein Vater und Erwin behaupteten es jedenfalls – einmal auch getan hatte. Ein Querschläger oder Irrläufer, vor dem sich Erwin und mein Vater gerade noch hatten wegducken können. Ich glaubte ihnen nur halb, vor allem weil sie, für einmal ein Herz und eine Seele, herzlich lachten, wenn sie die Geschichte zum Besten gaben. Immerhin war im Verputz ein Loch, aus dem Sand rieselte. – Während der drôle de guerre (oder war das später?) schoss die Haubitze zuweilen über den Rhein nach Huningue hinüber. Ein einsamer Knall. Keine Antwort, nie. Keine erkennbare Wirkung auch. – In Weil am Rhein sah ich sogar Menschen, kleine Figuren, die auf der Promenade am Flussufer gingen. Sie taten nichts Besonderes. Ich wusste aber, dass sie böse waren. Einmal führte ein Mann ein Pferd am Zügel, und ich versuchte zu entscheiden, ob auch das Pferd ein böses war, oder eher ein armes, weil es in der Gewalt des bösen Manns war. (Später, viel später lernte ich die Schauspielerin Hilde Ziegler kennen. Sie war gleich alt wie ich und in ebendiesem Weil am Rhein aufgewachsen. Oft – so erzählte sie es, und sie beschrieb es auch in einem berührenden Erinnerungsbuch – hatte sie da am Rheinufer gestanden und nach Basel hinübergeblickt. Ins Land ohne Krieg. Vielleicht war sie eine der Menschenfiguren gewesen. Vielleicht hatte auch sie mich gesehen, wie ich zu ihr hinschaute, zu den Bösen.) – Wenn ich an den Stacheldrahtrollen der Grenze entlangging,
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