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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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gehörten auch die Maikäfer zum Krieg. Tausende schwarze Punkte – Hunderttausende eher – schwirrten jeden Abend im letzten Licht der längst untergegangenen Sonne herum. Wir hielten Leintücher in die Höhe, in die die Käfer hineinprasselten. Es klang wie ein Platzregen. Ich schaufelte die Käfer in einen Eimer, und irgendwer brachte sie am nächsten Tag zu einer Sammelstelle. Der Liter brachte einen Rappen oder fünf. Einen Sommer lang stanken alle Eier nach Maikäfer, dann kam man wieder davon ab, sie den Hühnern zu verfüttern. Und natürlich war da dieses Lied, das ich vor mich hin summte, obwohl ich mich vor ihm fürchtete, und in dem ein Maikäfer flog, der Vater im Krieg und die Mutter im Pommerland war. Ich hatte keine Ahnung, wo Pommerland lag – weit weg gewiss –, aber es war abgebrannt und konnte kein guter Ort sein. – In der ganzen Riesenwohnung gab es nur noch ein geheiztes Zimmer, das kleinste, in dem wir uns also, als es Winter wurde, alle vier aufhielten. Tag und Nacht, so kommt es mir vor, obwohl es das Schlafzimmer von Mama und Papa war und wir Kinder gewiss weiterhin in unsern vertrauten Betten schliefen, bis zur Nasenspitze eingemummelt unter Decken und Federbetten und mit einer Bettflasche an den Füßen. Die Mutter nähte, flickte und strickte und redete, der Vater tippte auf seiner Maschine oder blätterte im Littré – er hatte die Fähigkeit, sich gegen jedes Außengeräusch so abzuschotten, dass man ihn anstupsen musste, damit er zuhörte –, und Nora und ich spielten mit unsern Stoffnegern, die jeder eine von meiner Mutter gestrickte Hose und Jacke trugen. Noras Neger war leuchtend orange, meiner dumpf grün. Das Zimmer hieß »die Wärme«. »Komm in die Wärme, Uti!« Wir aßen sogar in der Wärme, und meine Mutter kochte im Mantel in der eisigen Küche. – Auch war es die Zeit, da man jedes Mal den Lichtschalter drückte – eine einsame 25-Watt-Glühlampe an der Decke –, wenn man ein Zimmer betrat. Man drückte ihn erneut, wenn man das Zimmer verließ, und sei es nur für ein paar Augenblicke. Das Gleiche im Korridor. Licht an, die zehn Schritte bis zu seinem Ende, Licht aus. »Liiiicht aus!«: Dieser Ruf war ein Leitmotiv meiner jungen Jahre. – Mein Vater war dann weg. Hie und da nur tauchte er (auf einem Fahrrad?) auf, in einer Soldatenuniform jedenfalls, die er zu Hause auszog und mir überließ. So rumpelte ich in viel zu großen Nagelschuhen, mit einer feldgrauen Mütze, die mir bis über die Ohren und Augen hing, und mit allerlei Lederzeug um Brust und Bauch herum durch die Wohnung und in den Garten hinaus, grüßte Astor, indem ich die Hand an den Käppirand legte, und blickte drohend zu den Ländern des Feinds hinüber. Das Bajonett schlug bei jedem Schritt gegen meine Beine. Dann bewachte ich Haus und Garten, bis mich mein Vater rief, weil er sein Zeug wieder brauchte. Er hatte nun seine Uniform wieder an, schnallte das ganze Lederzeug um (in den Munitionstaschen waren seine Zigaretten), schnürte die Schuhe, hob mich hoch, gab mir einen Kuss und zog erneut in den Krieg.
    EINMAL stand ich im Kornfeld hinter dem Haus, ein Dutzend Meter von dem Feldweg entfernt, der dem Gartenzaun entlang zur Straße hinunterführte und gleich vor mir eine Abzweigung hatte, von der aus ein ebenso schmaler Schotterweg nach Binningen ging. Fern der Wald. Ein blauer Himmel. Hitze. In unserm Garten brannte ein Feuer. Ich, keine Ahnung, was ich da in dem Getreidefeld tat. Nichts, ich stand. Plötzlich tauchte auf dem Weg ein Mann auf. Weit weg, beim Nussbaum oben. Er rannte, und ich wusste sofort, dass das kein gutes Rennen war. So rannte man, wenn man auf der Flucht war. Er kam näher. Bald hörte ich sein Keuchen und sah sein schweißüberströmtes Gesicht. Er war tatsächlich in Lumpen: Hemd, Hose, Jacke, alles farblos und zerschlissen. Er war nun ganz nah – hatte panische Augen, die mir keinen Blick gönnten –, bog in den Weg nach Binningen ab, wurde kleiner und kleiner und verschwand endlich im Wald. Als er weg war, wurden, wieder beim Nussbaum, zwei weitere Männer sichtbar. Sie hielten einen Hund an der Leine, einen Schäferhund, der die Nase am Boden hielt und an seiner Leine zerrte, obwohl auch diese Männer schnell liefen. Sie rannten selbstsicherer, so wie jemand läuft, der recht hat. Auch sie kamen näher. Ein großer stämmiger Mann und ein etwas kleinerer. Sie keuchten auch, aber weniger gehetzt. Polizisten, ja, da war ich mir sicher, obwohl sie zivile Kleider

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