Reise zum Rand des Universums (German Edition)
den Treppenabsatz in die Schaub’sche Wohnung zu eilen. Die Tür war nicht verschlossen. Er stand witternd und auf einem Fuß im Korridor, fluchtbereit. Die Schreie waren nun viel lauter. Sie klangen wie die eines harpunierten Seelöwen oder eines Flusspferds, das ein Krokodil am Bein hatte. Madame Schaub, kein Zweifel. Sie steckte in der Badewanne fest, ein Gebirge aus rosa Fleisch in einem Wasser mit weißem Schaum, und sah meinen Vater entsetzt an. Keine Scham, Todesangst. Sie kam nicht mehr aus der Wanne raus, die sie so vollständig füllte, dass zwei Becher Schaumwasser genügten, sie bis zum Hals zu bedecken. Mein Vater, der sonst wegsah, wenn eine Dame sich den Schuh band, schämte sich auch nicht. Er packte sie an beiden Händen, stemmte die Füße gegen den Wannenrand, und nach ein paar Fehlversuchen – Madame Schaubs Hände waren glitschig – fuhr die gesamte Madame mit einem Geräusch, das so klang, als habe ein Riese einen Riesenkorken aus einer Riesenflasche gezogen, aus der Wanne und begrub meinen tapferen Vater unter sich. Da lagen beide, er unter Madame Schaub um Atem ringend, sie ebenso atemlos schnaufend, dass sie kaum spürte, wer oder was da unter ihr lag. Irgendwann wälzte sie sich weg, und mein Vater lebte noch.
Über uns wohnten die Deschwandens, die einen Sohn hatten, der ähnlich alt wie ich war und mit dem ich trotzdem kaum sprach, keine Ahnung, warum. Er war ganz nett. Wer in der andern Wohnung des zweiten Stocks wohnte, weiß ich gar nicht mehr. Im Parterre war nur eine Wohnung (kann das sein?), in der die Familie Hutton wohnte. Eine Mutter, zwei Kinder, vermutlich auch ein Vater. Sie sprachen englisch, aber es war nicht das Englische, das auch hier ein gemeinsames Spielen verhinderte. Fremdelte ich, oder fremdelten die andern? – Am meisten noch war ich mit Peterli von Arx zusammen, der eine hübsche Schwester hatte (Margrit?) und später, als ich ihn nicht mehr kannte, ein Star in der ersten Mannschaft des Eishockey-Clubs Basel wurde. (Da ging ich schon nicht mehr zu den Spielen. Ich hatte das früher getan – gratis, das heißt gesetzeswidrig; ich zwängte mich durch eine Lücke des Sichtblendenzauns –, weil die Kunsteisbahn keine zehn Minuten von unserm Haus auf dem Bruderholz stand. Ich habe Bibbi Torriani spielen sehen! Trepp und die Brüder Poltera! Und einmal pro Spiel brach der Basler Verteidiger Handschin [»Händsche«], ein Schrank von einem Mensch, zu seinem legendären Sololauf übers ganze Feld auf, den Puck am Stock, als sei er angeleimt und eine Schneise aus gefällten Gegenspielern hinterlassend. Ob daraus dann ein Tor wurde [zuweilen wurde es eins], war nicht so wichtig. Aber der Sololauf musste sein, und Händsche wusste das.) – Im Übrigen war das Haus an der Bettingerstraße eine Bleibe, die ich vergaß, noch während ich sie bewohnte. Ich lebte in einem schwebenden Provisorium. Das konnte ja nicht das Leben sein.
NICHT nur das Jahr, auch das Leben beginnt nicht mit seinem Frühling. Mit der Explosion der Triebe und ihrem Jubel und Schmerz. Zuvor ist auch da ein Warten, ein schönes Warten oft, eins voller Ängste auch – Monster vor dem Fenster, Räuber unterm Bett –, eine Zeit ohne Zeit, denn noch ist diese unendlich. Noch gibt es keinen Tod, oder nur den sehr fernen: Großmütter, greise Nachbarn. – Für die Erzählung, wie der Trieb in mir erwachte, ist es an dieser Stelle eigentlich zu früh (ich bin ja gerade erst zehn Jahre alt und habe noch nicht einmal meine neue Schule, einen Ort des Grauens, betreten), aber dieser Trieb selber, in mir alt geworden wie der ganze übrige Urs, will offenkundig unbedingt, dass ich jetzt, jetzt!, von seinem ersten triumphalen Auftreten berichte. Er benimmt sich, mein Trieb, heute noch genauso wie einst, er denkt nicht daran, sich nach mir zu richten. Er sagt, wann, was, wer und wie; ich werde nicht um meine Meinung gefragt. Nun denn. Ich berichte also jetzt, was später berichtet werden müsste, sehr viel später, denn ich war, glaube ich, auch in Triebfragen ein Spätzünder. Jedenfalls verbinde ich das erste Auftreten des Triebs – eine Hitzeüberschwemmung; eine Explosion von tief innen her – mit meinem ersten legalen Kinobesuch. Ich war also schon sechzehn, kann das sein? Dass es mein sechzehnter Geburtstag war, weiß ich noch, weil ich unaufgefordert meinen Ausweis herzeigte und der Mann an der Kasse lachte und mir viel Glück wünschte. – Das hatte ich dann auch, das Glück, denn der Film war Roman
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