Reise zum Rand des Universums (German Edition)
Glück. Das Leben kann beginnen.
DIE neue Wohnung an der Bettingerstraße 7 in Riehen war so: vier Zimmer im ersten Stock, eine Küche, an die ich mich kaum erinnere, und, vermutlich doch, ein Badezimmer, von dem ich gar nichts mehr weiß. Alles war klein: die Räume, der Korridor, der Balkon, auf dem ich ratlos stand und auf einen asphaltierten Hof und eine Reihe von Garagentoren blickte. Das winzigste der vier kleinen Zimmer wurde meins. Immerhin, denn Nora kriegte gar keinen eigenen Raum. Sie schlief im Wohnzimmer, so dass, weil sie um acht schlafen ging, meine Mutter nach dem Nachtessen in der Küche war, auch wenn sie vielleicht lieber im Fauteuil des Wohnzimmers sitzend genäht oder meine Hosen geflickt hätte. Mein Vater tippte in seinem Arbeitszimmer. Er bemerkte das Luxusleben gar nicht, das er führen durfte. Ein ganzes Zimmer, das größte vielleicht gar?, nur für ihn und seinen Schreibmaschinenlärm. Der Marconi war allerdings verschwunden. Keine Musik mehr.
Ich verkroch mich in mein Zimmerchen. Es war so klein, dass der Kleiderschrank, der auf dem Bruderholz ein normaler Kasten gewesen war, hier wie ein Monstrum aussah. Er stand frei im Zimmer, so weit von der Zimmertür, dass ich diese gerade einen Spaltbreit öffnen und mich, einem Schlangenmenschen gleich, ins Zimmer hineinwinden konnte. Dicke Menschen mussten draußen bleiben; mein Vater, der nicht dick war, ist wohl kein einziges Mal in diesem Raum gewesen. Meine Mutter, die gelenkiger als er war und den Schrank als einen Teil ihrer Welt betrachtete, tauchte hie und da auf, jäh, ohne anzuklopfen; jedes Mal rumste die Tür in die Kastenhinterwand, und ich, auf der andern Seite, stellte mich erschrocken vors Fenster, so weit weg von der Tür, wie’s eben ging, die Hände auf dem Rücken, als hätte ich etwas Verbotenes getrieben. – Ins Schlafzimmer der Eltern ging ich auch in dieser Wohnung nicht. Auch diese waren nur dort, wenn sie schliefen (Vater früh, Mutter spät). Auch aus dem neuen Schlafzimmer hörte ich nie einen Laut.
GEGENÜBER, auch im ersten Stock, wohnten Monsieur und Madame Schaub. Ihr Name wurde französisch ausgesprochen – »Schoob« –, denn Monsieur et Madame stammten aus einer Gegend, die der unsern kulturell überlegen war. Paris oder Yverdon-les-Bains. Ich habe sie nie ein deutsches Wort sprechen hören, vermutlich kannten sie tatsächlich keines. Nicht einmal »guten Tag«. Monsieur arbeitete irgendwo in der Stadt und ging zu Fuß zu seinem Arbeitsort. Acht oder zehn Kilometer, und am Abend zurück. Er war Stunden unterwegs, war aber aus unbekannten Gründen nicht in eine Straßenbahn zu bringen. Wahrscheinlich fürchtete er, in ihr auf einen sale communiste zu treffen, denn alles, was in der Welt Böses geschah, fand für ihn im unheilvollen Wirken der Kommunisten seinen Ursprung. (Auch als mein Cousin Thomas und ich einmal die Namensschilder aller Briefkästen vertauschten und das Ehepaar Schaub zu Mr. und Mrs. Hutton machten, sah er darin einen Anschlag der Kommunisten; so dass Thomas und ich nicht auf der Liste derer standen, die er verdächtigte; mein Vater sehr wohl.) – Madame Schaub war dick. Sie war wirklich sensationell dick, an der Grenze der Bewegungsunfähigkeit. Und sie war fürs Saubere. Sie war imstande, mit einem Gesicht wie Medea unmittelbar vor ihrem Mord meine Mutter in die Waschküche zu zitieren, weil sie diese in einem Zustand angetroffen hatte, für den sale ein viel zu schwaches Wort war. Crasseux kam der Sache näher, und Madame Schaub rief das vernichtende Wort mehrmals. »Crasseux, tout est crasseux, regardez vous-même!« Sie strich mit dem Zeigefinger ihrer rechten Hand über den Rand der Zentrifuge. Meine Mutter sah auf den Finger, den sie ihr anklagend entgegenhielt, die Zentrifuge und das Waschbecken, voller Schuldgefühle, obwohl sie wusste, dass sie sie vor kaum einer Stunde blitzblank gerieben hatte. »Mais tout est propre«, murmelte sie dann doch. »Jetzt, ja, jetzt!«, donnerte Madame Schaub und hielt den Zeigefinger in die Höhe. »Weil ich Ihren Dreck weggeputzt habe!« Sie wischte den Finger an ihrer Schürze ab.
Einmal, mitten am Tag (Monsieur Schaub noch bei der Arbeit oder auf dem Heimmarsch), hörte mein Vater, der an der Schreibmaschine saß und auch im neuen Heim gegen Außengeräusche aller Art (Kinder, Pressluftbohrer) immun war, ein gellendes Hilfegeschrei aus der Wohnung der Schaubs. Es war so absolut, dass mein Vater gar nicht anders konnte, als quer über
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