Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
Vom Netzwerk:
Schura Fausta, die damals schon so aussah, als sei sie einer alten Sage entsprungen, als ein Kompliment verstand, so dass sie mit verdoppelter Energie durch den Saal wirbelte, meinen Vater wie eine Beute mit sich schwingend. – Wie ich Tischtennis spielte, auch das stunden- oder wenigstens so lang, als ich Gegner fand, die sich meinen Schmetterbällen stellten, Mami und Papi und Nora, die ich alle vom Tisch fegte, und Claudio, der die Bälle viel raffinierter als ich anzuschneiden vermochte – ja, ich lernte diese Teufelstechnik erst von ihm – und gegen den ich, glaube ich, kein einziges Spiel gewinnen konnte. – Wie wir den Pingpong-Saal neu anmalten und die kaum noch als Schatten erkennbaren, schimmligen Darstellungen von Schäfern, Säumern und Maultieren (spätes 19.   Jahrhundert) mit einer plumpen Ockerfarbe übermalten; ein Verbrechen am Weltkulturerbe. – Wie wir, spät in der Nacht, mit Klaus Nonnenmann (Die sieben Briefe des Doktor Wambach, Teddy Flesh oder die Belagerung von Sagunt) in der Küche saßen, Klaus, Nora und ich, und Brecht-Lieder sangen, alles was uns einfiel, von Mackie Messer über den Alabama Song bis zum Surabaya Johnny , und wie plötzlich mein Vater im Pyjama unter der Tür stand, wütend, tatsächlich abgrundtief gekränkt, dass wir Kinder es mit seinem Freund lustig hatten. – Wie Werni und Hilly Rihm sich vor dem Einschlafen lieben wollten, und wie ihr Bett – übrigens mein Bett; ich hatte ihnen mein Zimmer abgetreten und schlief im Salon – mit einem gewaltigen Getöse in Stücke fiel, und wie dann die beiden, kaum bekleidet, mit viel Gelächter aus dem Zimmer kamen. – Wie Ivan Engel, ein Pianist aus Budapest, der auch einmal mit uns in den Ferien war, Ohrenweh hatte und tagelang mit einer Hand das schmerzende Ohr zuhielt, und wie ich ihn am dritten Tag seiner Krankheit beim Spazierengehen auf der alten Römerstraße antraf, und dass er da mit der andern Hand das andere Ohr schützte, so dass ich ihn fragte, warum, und er antwortete, ja, der ursprüngliche Arm tue ihm weh, noch mehr als das kranke Ohr, und so nehme er eben eine Weile lang den andern Arm und das andere Ohr, obwohl dieses nicht schmerze.
    Die Tage von La Rösa endeten mit einem zweitägigen Putzen, dessen Beginn mich überrumpelte, erschreckte, denn er machte mir von einer Minute auf die andere deutlich, dass es bald wieder eine Zeit geben werde. Es war aus mit dem ewigen Leben. Mami hatte das Kommando, Nora und ich machten uns so nützlich, wie Kinder das können, und sogar Papi tippte nicht und las auch in keinem Buch, sondern klopfte die Teppiche aus und half, sie zusammenzurollen. Mami putzte den Herd, schrubbte die Böden, zog die Betten ab, reinigte die Fenster, wusch die Vorhänge, schichtete Brennholz fürs nächste Jahr ordnungsgemäß auf, stellte das Wasser ab, blies den Hahn aus. Am Ende kam Delia und nahm die Wohnung ab. Zählte die Teller und Gläser und sah nach, ob im Klo kein Restwasser mehr war.
    Dann schloss meine Mutter die Haustür ab, und wir gingen ums Haus und umarmten die, die gerade da waren. Lea, alles in allem, und drüben im Hotel Schura Fausta. Zum Abschied war das Wetter strahlend schön. Der Postbus kam, und wir stiegen ein. Ich saß auf dem Sitz neben dem Chauffeur, dem lustigen Mädchenschänder, der für mich das Dreiklanghorn vor mehr Kurven erklingen ließ, als er das üblicherweise tat. Ich stimmte im Kopf – ein harmloser Zwang, der mich bis heute begleitet – den falschen richtigen Ton um eine halbe Note nach unten, auf die Tonhöhe jenes archaisch verstimmten Posthorns von Grimentz. Weit oben, nah der Passhöhe, gab es eine Stelle, von der aus wir das Haus nochmals sehen konnten. Mindestens Mami und ich schauten aufgeregt aus dem Fenster – ein Blinzeln, und man verpasste den kostbaren Augenblick – und sahen tatsächlich, tief unten, winzig und für den Hauch einer Sekunde nur, das Haus noch einmal. Mami hatte Tränen in den Augen, ich vielleicht auch. Nora erklärte ihrem Zwerg, dass es jetzt heimwärts gehe, und Papi grinste in sich hinein, weil er, wahrscheinlich, für sich ganz allein einen besonders grauenvollen Kalauer oder Schüttelreim gefunden hatte. Ich sah wieder nach vorn und genoss den Rest der Fahrt, den steilen schmalen Weg vom Hospiz zum Bahnhof hinunter, bei dem der Chauffeur im ersten Gang fuhr und gerader als sonst saß.
    ICH frage mich, warum die Mutterfamilie so viele Geschichten bereithält, Mythen beinah, die erzählt werden wollen, und

Weitere Kostenlose Bücher