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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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es wärmer geworden, mild, und ich fuhr ohne Handschuhe und Mütze. Der US -Army-Mantel war halb offen und blähte sich im Fahrtwind. Ich kam gegen Abend in Montpellier an und fand auf Anhieb das Herz der Stadt, die Place de la Comédie, wo ich die Vespa neben ein paar ähnliche Vehikel stellte und zu erschöpft war, das Gepäck mit mir zu nehmen, als ich mich auf die Terrasse eines Cafés setzte, das Y a bon hieß. Ich dachte, falls ich überhaupt etwas dachte, dass sich für dieses Gepäck gewiss niemand interessierte. Gegenüber, auf der andern Straßenseite, war das Y a mieux, das ich erst bemerkte, als ich mein zweites Glas geleert hatte. (Ich blieb dann dem Y a bon treu.) Als ich zur Vespa zurückkam, war das Gepäck in der Tat noch da; aber der Scheinwerfer war abmontiert worden. Nur noch zwei Drähte, die auf dem Schutzblech des Vorderrads lagen. So dass ich dann den ganzen Sommer über ohne Licht fuhr, denn auch bei meiner Vespa – wie früher bei meinem Fahrrad – kam mir nicht in den Sinn, dass ich ja einen neuen Scheinwerfer montieren lassen konnte. (Hatte ich wirklich so wenig Geld?) Jedenfalls, wenn es dunkel geworden war, wartete ich – einem Raubtier gleich, das seiner Beute auflauert – mit laufendem Motor am Straßenrand und setzte mich dann hinter ein Auto, das in meine Richtung fuhr. Es schützte mich und beleuchtete meinen Weg. Manchmal schaffte ich es mit einem oder zwei Autos bis zu meiner neuen Heimat am Chemin de Nazareth, weit vor der Stadt; meist aber brauchte ich drei oder vier, und die letzten hundert Meter musste ich sowieso im Mondlicht fahren, im Schritttempo. Das Haus, in dem ich ein Zimmer gefunden hatte, stand einsam zwischen Schilf und Ginstergestrüppen, in denen Grillen zirpten und Nachtigallen sangen. Mücken auch, Millionen Schnaken. Die Bäume und Büsche leuchteten blau.
    Es gab tatsächlich eine Uni, die aber ein so düsteres Gebäude war, dass ich sie ein einziges Mal betrat – ich meldete mich an –, und dann nie mehr. Wieso sollte ich in dieses staubige Gefängnis gehen, wenn ringsum eine Welt strahlte, die mir das Paradies zu sein schien? Die einzige universitäre Einrichtung, die ich in den nächsten Monaten benutzte, war die Mensa. Da kostete das Essen eins fünfzig, und die andern Esser waren alle so jung wie ich. Sonst schaute ich, schaute und staunte und sog dieses Licht in mich auf, als hätte ich die letzten zwanzig Jahre im Dunkeln gelebt. Ich wanderte in der Stadt herum und fuhr mit der Vespa immer weitere und verschlungenere Wege. Zuerst lernte ich die routes départementales kennen, dann die chemins vicinaux und endlich auch Fußwege aus Fels und Sand, die nicht für Vespas gedacht waren, trotzdem aber zu einem romanischen Gemäuer oder einer geheimen Bucht führten. Das Meer roch ich schon vor den Toren der Stadt, und natürlich zog es mich nach wenigen Tagen zu ihm hin. Unterwegs Lagunen. Auffliegende Vögel. Schräggewehte Baumkrüppel. Dem Ufer entlang kilometerlange Sandwellen, auf denen außer mir kein Mensch ging. (Nur an den Sonntagen war der Strand voller Menschen, und auf der Straße, hundert Meter landeinwärts, standen die Autos eins hinter dem andern. In jedem zweiten – wenn meine Erinnerung nicht übertreibt – saß, an einer Baguette und ein paar Oliven kauend, eine Großmutter, die von ihrer Familie zum Baden mitgeschleppt worden war, aber Sonne, Wind, Sand und Wasser scheute.) Ich schwamm; ich war ja keine Großmutter; aber eher an den Wochentagen. Der Frühling glich schon im Mai einem Sommer, und ich eroberte die ganze Camargue. Die Pferde! Die Stiere! Die Flamingos! Ich kam bis Nîmes und Arles und sah bald (dachte ich, hoffte ich) wie ein sonnengegerbter Einheimischer aus. Stierhirt, Fischer, marin. Ich trug T-Shirts, bei denen mich Schmierölflecken und Risse nicht störten. Ja, ich scheute mich nicht, zuweilen einen kleinen meridionalen Akzent in mein Französisch einfließen zu lassen. Ich sprach mit diesem und jener und fühlte mich, obwohl ich niemanden näher kannte, alles andere als allein. (Ich war sehr bald an eine Frau herangeraten, die mir ihre Schreibmaschine lieh und mit der ich deshalb hie und da einen Kaffee trank. Ich glaubte nämlich – das Beispiel meines Vaters –, ohne eine Schreibmaschine nicht leben zu können. Die Frau wollte immer häufiger mit mir Kaffee trinken und sah mir immer tiefer in die Augen, so dass ich beim sechsten oder elften Rendezvous die Maschine mitnahm und ihr vor die Füße stellte.)

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