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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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Ich merkte gar nicht, dass ich nicht studierte. Ich studierte ja: diese neue Welt, in der sogar die Tankstellen leuchteten und die Platanen Schatten warfen, die scharf und klar waren und alle Farben des Regenbogens enthielten.
    An einem Abend saß ich – immer noch allein und mich mit allen und allem um mich herum eins fühlend – in einem Restaurant, einem bistro eher, trank einen Rotwein, und ein Mann setzte sich an meinen Tisch, nahm sofort einen Skizzenblock hervor und begann zu zeichnen. Leicht, schnell. Er zeichnete die Gäste an den andern Tischen, das sah ich, als ich zu ihm hinüberluchste. Karikaturen, ja, aber sehr gute. Er kümmerte sich nicht weiter um mich – der Wirt hatte ihm unaufgefordert ein Glas Wein hingestellt –, und als er ein Dutzend Blätter beisammenhatte, stand er auf, ging zu seinen Modellen hin und versuchte, ihnen ihr Bild zu verkaufen. Er war nicht teuer, fünf oder zehn Francs. Trotzdem kauften nur ein paar wenige. Er schien nicht im Geringsten betrübt, als er an unsern Tisch zurückkam, und bestellte ein weiteres Glas Wein. Jetzt sprach ich mit ihm. Ich sprach französisch, was sonst, und vergaß auch nicht, den Provenzalen in mir durchklingen zu lassen. Er sah mich aus zusammengekniffenen Augen an und antwortete mir schweizerdeutsch. Ich fragte ihn nicht, wie er dahintergekommen war, dass ich nicht in der zehnten Generation aus Marseille stammte. Er hieß Walo (ich weiß nicht, ob er mir jemals seinen Nachnamen verriet), war Maler und lebte, weil seine Bilder ihm kein Geld brachten, vom Karikaturenzeichnen. Er zog jeden Abend los, jeden zweiten Abend, durch die immer selben Lokale; so dass manche ihr Bild nicht hatten kaufen wollen, weil sie zu Hause bereits eine ganze Walo-Sammlung hatten. Er zeichnete auch mich, während wir plauderten, und schenkte mir sein Werk. Er war deutlich älter als ich, wohl schon um die vierzig (er war ein erwachsener Erwachsener) und wohnte in einem Haus am Dorfrand von Lavérune – ein Dutzend Kilometer außerhalb von Montpellier, die er mit Hilfe eines klapprigen Mofas bewältigte –, in einer Ruine eher, die kurz vor dem Einstürzen zu sein schien, schiefe Fensterläden und Fußböden aus losen Platten hatte. Ein Bad gab’s nicht, nur eine Pumpe, mit der Walo eine graue Brühe aus dem Grundwasser hochholte. Er hatte auch kein Klo, sein Klo waren die Reben, die rings um sein Haus herumstanden. Er lebte mit einer gnomartigen Frau, die auch sein Modell war und zuweilen mit hochgereckten Armen auf einem Bretterpodest stand. Es störte sie nicht, wenn ich Walo eine Weile lang beim Malen zusah, oder ihr beim Modellstehen; Walo hatte auch nichts dagegen. In der dritten oder vierten Woche unserer Bekanntschaft schnitt sie sich die Pulsadern auf, allerdings nicht radikal genug, so dass sie von Walo – der sie fand, als er vom Einkaufen zurückkam – irgendwie zugeklebt wurde und am Abend schon wieder bei uns saß, mit dicken Mullbinden um beide Handgelenke, schweigend wie immer, mit Augen, die ins Leere schauten, jedenfalls nicht auf Walo und schon gar nicht auf mich. Walo malte, neben seinen Akten, Landschaften. All den Süden um ihn herum. Ich weiß nicht, ob mir seine Bilder gefielen. Das Licht, in dem er lebte, verwandelte sich auf seiner Leinwand in viel Grau und Braun, und er hatte eine Neigung, seinen Figuren und auch den Mauern oder Bäumen auf seinen Bildern einen schwarzen Rand zu verpassen, einen sehr feinen meist; er genügte aber, alles, was Walo malte, wie in einem tödlichen Netz gefangen aussehen zu lassen. Einmal kam ich, an einem hellen Vormittag, zu ihm, und er malte an einem großformatigen Bild. Einem Akt. Diesmal saß die Freundin entspannt auf einem Küchenhocker. Sie hielt eine Blume in einer Hand. Das Bild, alles andere als fertig, war so atemberaubend gut, dass ich ihm, während er weitermalte, sagte, er müsse sofort aufhören. Das Bild sei fertig, und jeder weitere Pinselstrich werde es beschädigen. Walo lachte, legte den Pinsel weg und schenkte mir einen Kaffee ein. Die Freundin (Pilar? Mercedes? Etwas Spanisches jedenfalls) schlüpfte in einen Regenmantel und huschte davon. Am nächsten Tag, als ich wiederkam, hatte Walo meinen Rat nicht befolgt und die Konturen des Akts mit einem dicken Schwarz nachgezeichnet, und das Bild war so tot wie die andern zuvor. – Walo kochte gut. Da er alle und jeden in und um Montpellier herum zu kennen schien, war sein Haus immer voll mit seinen Freundinnen und Freunden. Sie – ich

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