Reise zum Rand des Universums (German Edition)
um einen möglichst anstrengungsfreien Posten zu kriegen, gab mir aber, kaum hatten die Prüfungen begonnen, die größte Mühe, möglichst schnell zu rennen oder ein handgranatengroßes Klötzchen möglichst weit zu werfen. So wurde ich Infanterist und für befähigt erklärt, 30-Kilometer-Märsche mit 30 Kilogramm auf dem Rücken zu machen.) Ich hatte eben meinen Pyjama angezogen, als die Tür aufging und Anne-Marie hereinhuschte. Sie war barfuß und trug einen weißen Bademantel, den sie sogleich abstreifte. Nun war sie nackt. Ich verstand sofort, hatte auch sogleich einen Steifen. Ich suchte hektisch nach einem Pariser (ich hatte also mit so etwas gerechnet) und fummelte in Panik mit ihm herum. So rum, andersrum, irgendwie rum. Anne-Marie hatte sich inzwischen auf mein Bett gelegt und wartete. Ich hatte das Präservativ nun montiert, stürzte zu ihr hin, bebend, und spritzte los, bevor ich sie überhaupt berührte. Anne-Marie stöhnte, nicht aus Lust, sondern weil sie enttäuscht war. Dann saß ich da, und auch Anne-Marie setzte sich auf. Wir wussten beide nicht, dass das, was uns eben geschehen war, weiter nicht schlimm war und dass wir ein paar Minütchen warten und uns die Zeit mit Küssen vertreiben mussten. Wir dachten, dass es aus sei mit der Liebe, wenn nicht für alle Ewigkeiten, so doch gewiss für diese Nacht. AnneMarie zog den Bademantel wieder an und schlich so unhörbar davon, als sei sie nie da gewesen. – Am nächsten Morgen – an den Abschied kann ich mich nicht erinnern – fuhr ich mit dem Zug nordwärts, ich stand im Korridor zusammen mit der besten Freundin Anne-Maries, die nicht in mich verliebt war. Ich entdeckte ihr, während ich neben ihr stand, mein Dilemma, nämlich, dass Anne-Marie ein Kind haben wollte, einen Stefan, und dass ich, ja, dass ich eigentlich nicht wisse, was ich wolle; jedenfalls keinen Stefan, jetzt. Die Freundin versuchte, ihre Sympathien gerecht zu verteilen. Sie gab Anne-Marie recht, und dann gab sie mir recht. Sie war gleich jung wie wir und sprach mit der Weisheit einer erwachsenen Frau. Es endete dann so, dass ich Anne-Marie einen Brief schrieb, einen langen, elenden, feigen Brief, in dem ich ihr erklärte, warum und weshalb. Ich warf den Brief in den Kasten und rückte in die Rekrutenschule ein. Anne-Marie habe ich nie mehr gesehen. Ich hörte später einmal, sie habe einen Italiener geheiratet und lebe in Genua.
ICH las jetzt Bücher für Erwachsene. Ich las und las. Ich saß auf dem Felsen in La Rösa und las. Ich hockte auf dem warmen Granit des Fensterbretts, unter mir der Bach. Las. Ich las auf dem Bett liegend. Ich las sogar auf dem Kirschbaum, wo ich einen bequemen Sitz hatte, eine Astgabel, die beinah auf der Höhe meiner Mansarde war. Ich las im Fauteuil des Wohnzimmers sitzend, während meine Mutter auf mich einredete. Im Kaffeehaus, eine Schale Gold trinkend. (Einen entsetzlichen, heute ausgestorbenen Milchkaffee.) Am meisten aber las ich in der Schule, unter der Bank (Chemie, Naturkunde) oder auch offen auf ihr, weil Herr Doktor Bäschlin (Deutsch, Englisch, Geschichte) ja nicht mehr mit mir sprach und wohl froh war, dass ich wenigstens den Mund hielt. Ich las alle dicken Klötze der Weltliteratur – nicht alle natürlich; aber viele –, die Brüder Karamasow, Schuld und Sühne, den Moby Dick, den Spieler. Die toten Seelen. Krieg und Frieden (zwei Mal hintereinander) und Anna Karenina. Alle Stendhals, die mein Vater übersetzte (mein Favorit war Die Kartause von Parma ). Madame Bovary und die Éducation sentimentale. Den Tartarin de Tarascon. Den Don Quixote. Die Liaisons dangereuses. Den Nachsommer, ja, ich glaube, ich versuchte es damals schon mit Stifter. Die Buddenbrooks auf jeden Fall und Effi Briest und den Stechlin. Einen Poe nach dem andern. Viele, viele andere. Ich habe nie mehr so viel gelesen wie in diesen dichten Jahren. – Ich studierte auch mit heißer Begeisterung die Stilfibel von Ludwig Reiners (sie hieß irgendwie anders), die mir mein Vater geschenkt hatte und die mit Witz und tollen Beispielen ihren Lesern die falschen, lauten und verlogenen Töne auszutreiben versuchte. – Ich war zu der Zeit auch Platzanweiser in der Komödie Basel. Drei vier Mal in der Woche, für eins fünfzig pro Abend. Da stand ich in meinem Konfirmationsanzug, verkaufte Programmhefte und riss die Eintrittskarten ein. Die Komödie war eine private Bühne an der Steinenvorstadt, deren Direktor Egon Karter hieß und die, auf Teufel komm raus, ein
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