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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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Stück nach dem andern auf die Bühne stemmte. Klassiker, Boulevard, hemmungslos. Faust und Florentinerhut. Ich sah mir alle Aufführungen an – das war der wahre Lohn für diesen Job – und habe in der Zeit mehr Stücke gesehen als während der Jahrzehnte, die auf sie folgten. Leopold Biberti (einer der Comedian Harmonists von einst) und Blanche Aubry waren ein unzertrennliches Paar – sie spielten, immer zusammen, jede Rolle zwischen fünfundzwanzig und siebzig –, gehörten zum Inventar der Komödie, und es ist ein Wunder, dass Egon Karter Biberti nie als Lear und Blanche Aubry als seine machtgeile Tochter besetzte. (Blanche Aubry war ähnlich alt wie Biberti, spielte aber gern dessen jugendliche Liebhaberinnen.) Sonst spielten sie so ziemlich alles. – Einmal fiel, in einer Boulevard-Komödie in der Art Marcel Achards oder Robert Lamoureux’, der Dritte im Bunde aus, und ein Kollege wurde aus Zürich oder Freiburg im Breisgau herbeitelefoniert. Er hatte das Stück in der Saison zuvor gespielt und kam ungeprobt und im letzten Augenblick ins Theater. Die Vorstellung ist mir deshalb so unvergesslich, weil Akt eins und Akt zwei sich verteufelt glichen (aber eben doch verschieden waren) und der einspringende Kollege stets die Antworten aus dem falschen Akt gab. Biberti und Blanche Aubry reagierten, so sinnvoll es eben ging, und manchmal saßen alle drei schweigend da, der Gast schweißüberströmt und Blanche Aubry und Biberti mit tiefernsten Gesichtern, weil sie drauf und dran waren, hemmungslos loszuwiehern. Es war ein Abend von Beckett’scher Tiefe. – In Regen von Somerset Maugham prasselte das ganze Stück über echtes Wasser auf die Bühne und oft auch über die Rampe, wo es die Füße der Zuschauer in der ersten Reihe nässte. – Die Sitze waren damals noch nicht wie heute nach einem idiotensichern System nummeriert – Reihe 1, Platz 1 bis 23 etc. –, sondern mäanderten sich von vorn bis hinten durchs Theater, eine Schlangenlinie von 1 bis 312. (Dazu gab es noch einen Balkon.) Da durfte der Platzanweiser kein Idiot sein, er musste, wenn ihm eine Dame den Platz 216 hinhielt, auf Anhieb sagen können, dass sie die Reihe 12 besser von der andern Seite her beträte. Als ich später, ein gutes Jahrzehnt später, selber ein Stück in diesem Theater hatte, freute ich mich schon den ganzen Tag darauf, heiter auf die Hilfe meines Platzanweisernachfolgers zu verzichten und sicher wie eine Brieftaube zu meinem Platz zu finden. Aber das Theater war umgebaut worden, und die Plätze waren nummeriert wie überall.
    ES war Christel Nonnenmann, die Schwester von Klaus, die zum ersten Mal von Montpellier sprach. Wie schön es dort sei, die Sonne, das Meer, die Stadt. Ich ging inzwischen zur Uni – ich tat das lieber als zur Schule zu gehen; aber eine Schule war sie auch –, und diese legte ihren Studenten nahe, ein Jahr oder so im Ausland zu verbringen. Ich ließ mir das nicht zweimal sagen, und Christels Schwärmerei gab den Ausschlag, mich für Montpellier zu entscheiden. (Immerhin war das eine der ältesten Universitäten der Welt; schon Felix Platter, der Sohn von Thomas, hatte dort studiert.) Ich packte meine Ware auf den Gepäckträger meiner Vespa (ja, ich hatte jetzt eine Vespa, eine gebrauchte zwar, eine sehr gebrauchte, die aber treu und mit einer Höchstgeschwindigkeit von 50   km/h daherratterte, was ich wusste, weil zwar der Tacho von allem Anfang an kaputt gewesen war, ich aber in eine Kontrolle der Polizei geraten war, die das korrekte Funktionieren just dieser Anzeige prüfen wollte, und so fuhr ich also, mein Tempo Pi mal Handgelenk schätzend, mit voll aufgedrehtem Gashahn auf der Teststrecke und kriegte an ihrem Ende eine Prüfmarke aufgeklebt, die mir bescheinigte, dass mein Zeiger die Geschwindigkeit haargenau angegeben hatte). Ich fuhr mit so viel Gepäck los, dass die Vespa kaum noch steuerbar war. Es war März, Anfang März 1958, es war kalt, saukalt, und ich trug dicke Handschuhe, eine Wollmütze und meinen amerikanischen Soldatenmantel, den ich in Stuttgart aus Armeebeständen gekauft und der über dem Herzen ein Loch hatte. »Schussloch«, sagte der Verkäufer, als ich versuchte, den Preis wegen des Schadens herunterzuhandeln. »Könnse froh sein, dass ich das nicht extra berechne.« Ich kam am ersten Tag bis Lyon. Dort zitterten meine Hände so, dass ich mein Weinglas mit beiden Händen zum Mund führen musste. Die Kopfsteinpflaster der französischen Straßen. Am nächsten Tag war

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