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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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Zeit, verebbt dann wieder. Mein anderes Gefühl aber hatte das Talent, ganze Tage oder Wochen bei mir zu hausen, ohne dass ich es so recht bemerkte. Es war ein so häufiger Begleiter, dass ich diesen Dauergast für etwas Selbstverständliches hielt. So war ich eben, so waren die Menschen beschaffen. Ein Gefühl wie grauer Staub, etwas Zähes, Dunkles, Unfrohes, das mich oft so vollständig füllte, dass ich es für die Welt selber hielt, die ich also durch diesen Schleier hindurch deutete. Ich wurde ein Meister im Projizieren. So wie es in mir aussah, sah es auch in den andern aus. Ein Blödmann war ein Blödmann, auch wenn ich der einzige Blöde weit und breit war. Meine grauen Gefühle, Bleigewichte des Herzens, blieben in meinem Alltag unbenannt. Sie lähmten mich und fraßen mir Kräfte weg, von denen ich kaum mehr wusste, dass sie in mir waren. – Später kriegten meine Zustände Diagnosen. Sie wurden behandelbar, und ich behandelte sie. Ich brauchte zwanzig oder mehr Jahre, bis mich meine Ängste kaum mehr schüttelten und die depressiven Stunden regelrecht selten wurden.
    DIE Universität. Auch sie war eine Schule, eine allerdings, die mir leichtfiel, denn ich wählte ja nur Fächer, auf die ich Lust hatte. Deutsch, Französisch, Geschichte. (Trotzdem: Ich liebte die Uni nie. Ich wollte hinaus ins Leben.) Ich hatte das Glück, gleich auf einen ganzen Pulk bedeutender Lehrer zu stoßen. Das gab es, glaube ich, damals mehr als heute: schier übermächtige Giganten der Gelehrsamkeit, turmhohe Erscheinungen, die ihr Licht und ihren Schatten über das Treiben der andern warfen. Geliebt, gefürchtet. Jeder war auf seine Art einer jener aus Leidenschaft und Gelehrsamkeit geformten Intellektuellen, die umfassend wissend, unermüdlich neugierig und auf eine so offene Weise neurotisch waren, wie man das heute nirgendwo mehr bewundern darf. Empfindlichkeiten, Marotten vielleicht, und ein unbestechliches Forscherfeuer. An der Universität Basel hießen sie in den Fächern, die ich wahrnahm: Walter Muschg, Edgar Bonjour, Werner Kaegi, Georges Blin, Karl Jaspers und Karl Barth.
    NATÜRLICH gab es an der Uni auch manchen Langweiler. Das heißt, ich langweilte mich bei ihnen. Ihre Namen begannen alle, als sei das ein geheimer Code, mit dem Buchstaben W. Wagner, von Wartburg, Wiesmann. (Gehörte ich auch zur W-Fraktion?) Sie zuerst. Professor Wagner unterrichtete Gotisch und gestand mir einmal bei einem gemütlichen Umtrunk im Deutschen Seminar (wer hatte das Bier gestiftet? Er vielleicht?), er habe, obwohl Vollgermanist und Professor, den Faust nie gelesen. Weder eins noch zwo. Er wieherte vor Freude und hob das Glas. Er lehrte eine Sprache, die aus nicht mehr als einer Handvoll Wörter bestand, die alles in allem aus einer Quelle stammten (einer Übersetzung biblischer Texte eines Manns namens Wulfila), und einer deutlich größeren Anzahl von Begriffen, die von Gotisch-Forschern früherer Zeiten (Herr Wagner forschte nicht, da würde ich die Hand ins Feuer legen) aus irgendwelchen zwingenden Kontexten und Analogien erschlossen worden waren und, obwohl es nirgendwo einen Beleg für sie gab, für ebenso gotisch wie die gesicherten Wörter gehalten wurden. Sie trugen, damit man ihre nicht ganz astreine Herkunft erkannte, einen Stern (*) vor sich her, so dass die Gotisch-Seiten, durch die wir uns mit Herrn Wagners Hilfe hindurchübersetzten, wie ein orientalischer Nachthimmel aussahen. *Etwa *so, fast *alle Wörter *trugen *einen Stern. Ein präziser Sinn kam dennoch zustande, und ich war bald ein beredter Gote, obwohl ich nicht sicher war, ob ein echter Gote, den eine Zeitmaschine in unsern Hörsaal versetzt hätte, mich verstanden hätte und ich ihn. Aber vielleicht war Herr Wagner dieser Gote, er war in der Tat so gotisch, dass meine Mitstudenten immer seltener zu seinen Lektionen kamen und Herr Wagner und ich das Ende des Semesters allein in einem kammergroßen Hörsaal erlebten, in einem Abschiedsdialog, bei dem alle Wörter einen Stern trugen.
    WALTER von Wartburg, der zweite der großen W, war nicht wesentlich anregender. Auch er war ein sprachfähiges Fossil, dürr und grau, während Herr Wagner grau und massig gewesen war. Sein Fach war die französische Sprache; ihre Philologie ganz allgemein; La chanson de Roland und die Geschichte der langue d’oc und der langue d’oïl. Ihn interessierte aber ausschließlich die Etymologie der Wörter der Sprache seines Fachs. Aller Wörter. Falls er jemals von etwas anderem

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