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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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der abwesend wie ein Gott war und hie und da so erzschwer aus seinen Himmeln grollte, dass die Studenten und Studentinnen ihre Exzerpte wegwarfen und von vorne begannen. Aber Muschg war durchaus auch zu einer Art brummigen Güte fähig. Zu einem Humor der anderen Art, den als gute Laune zu erkennen nicht jedem leichtfiel. Ich arbeitete eine Weile an einer politischen Zeitschrift mit – sie hieß Neutralität und war alles andere als neutral –, die von Paul Ignaz Vogel geleitet wurde und von vielen als radikal links empfunden wurde, weil sie die demokratische Gegenwart nicht für gottgegeben und die reine Natur hielt. Jede Nummer war nicht nur ein politischer, sondern auch ökonomischer Überlebenskampf. Nach der zweiten oder dritten Nummer klingelte das Telefon bei Paul Ignaz Vogel – er hat mir die Geschichte so erzählt –, Walter Muschg war am Apparat und sagte, Paul Ignaz solle bei ihm vorbeikommen. Dann und dann, bei ihm zu Hause, Bruderholzallee 110, im Haus, an dem mein Buben-Marathon mich einst vorbeigeführt hatte. Paul Ignaz, ein Student wie ich, zitterte regelrecht, als er an der Haustür klingelte. Wenn der Vulkan grollte, konnte seine Lava verheerend sein. Aber Muschg empfing den zagenden Paul Ignaz freundlich, befragte ihn nach dem Wie und Warum der Neutralität – Paul Ignaz vertrat seine Absichten und Hoffnungen mit dem offensiven Mut, der ihm eigen war – und sagte plötzlich, bestens, er werde das Defizit dieser und der künftigen Nummern tragen. Er tat es, bis zu seinem Tod. – Ich wagte dann doch nicht, mich in die Schar seiner gramgebeugten Dissertanten einzureihen – ich weiß nicht, ob er mich überhaupt genommen hätte –, und schrieb meine Promotionsarbeit bei Heinz Rupp. Heinz Rupp war ein ebenso liebenswerter wie kompetenter Lehrer und wusste viel von mittelalterlichen Epen. Mein Thema war alles andere als mittelalterlich, und er ließ mich einfach machen. Bei der Promotionsprüfung sprachen Muschg und ich über Brentanos Der gestiefelte Kater, ein violon d’Ingres Muschgs, und ich sagte, mit gefurchter Stirn, als ob ich selber dächte, wortgenau die Sätze, die er in seiner Tragischen Literaturgeschichte geschrieben hatte. Muschg nickte sehr angetan. Beim Hinausgehen, nach der Prüfung, die ich offenkundig bestanden hatte, ging Muschg neben mir und murmelte etwas wie, ich sei ja gar nicht so blöd wie er die ganze Zeit über gedacht habe. Er starb drei Monate später.
    EDGAR Bonjour. Ein riesengroßer Kopf, der etwas von einem Totenschädel hatte. Der auch dem Oberpriester eines uralten Kults hätte gehören können. Edgar Bonjour, für Neuere Geschichte zuständig, war nicht nur tief wissend, sondern auch so wunderbar offen eitel, dass ich ihn gerade dafür besonders liebte. (Manche sahen nur seine Eitelkeiten und lachten über ihn.) Er war ein Theatraliker. Seine Vorlesungen und Seminare waren eine Show, eine Show des historischen Wissens natürlich, aber auch eine, die Bonjour selber funkeln und leuchten ließ. Bonjours Auftritte waren zuweilen unfreiwillig komisch, weil ihre Form so gestelzt und von hoher Manier war, und sie waren immer beeindruckend, weil Bonjour in der neueren Zeitgeschichte Bescheid wusste wie kein Zweiter. Er zog durchaus auch das sogenannte Pelzmantelpublikum an, nicht mehr ganz junge Damen der besseren Gesellschaft, die ihre Bildung zu vertiefen suchten und alle nebeneinander in der ersten Reihe saßen. Frau Sarasin, Frau Bernoulli, Frau Burckhardt, Frau Merian. Er hielt jahrzehntelang mehr oder minder wortgleich die immer gleichen Vorlesungen – ich kriegte alte Mitschriften ausgeliehen und konnte voraussagen, wann Bonjour einen Witz machen würde, und welchen –, und sie kamen trotzdem jedes Mal wie neu daher. Da war alles frisch und, so schien es, zum ersten Mal gedacht. Sogar seine Fehler und Pannen baute er wirkungsstark in seinen Vortrag ein. Immer wieder verließ er sein Katheder und begab sich auf lange Märsche quer durch den ganzen Hörsaal, stieg dozierend, so, als sei er so tief in seine Gedanken versunken, dass er sein Traumwandeln gar nicht bemerkte, die vielen Stufen bis zur letzten Reihe hinauf, sah auch, während er sprach, eine Weile durchs Fenster auf den Platz mit den Platanen hinunter, und machte sich – scheinbar irgendwann – wieder auf den Rückweg, immer bedächtig und formstark seine historischen Gedanken formulierend. Er kam sekundengenau beim Pult an, wenn die Klingel das Ende der Vorlesung ankündigte oder um, mit

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