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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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gesprochen haben sollte, war ich nicht dabei. Er arbeitete – seit Menschengedenken; gewiss seit seiner Geburt – an einem Lexikon, das ein monumentales Standardwerk werden sollte, es Jahrzehnte nach seinem Tod auch wurde und das, als ich das Studium begann, gerade beim Buchstaben B oder eventuell auch D angelangt war. Broussailles oder dorénavant. Walter von Wartburg zeichnete mich aber nicht, wie viele andere, aus, indem er mich auf ein Wort ansetzte, dessen Ursprünge noch nicht erforscht waren. Das durften vermutlich nur ausgewählte Hauptfach-Romanisten. Walter von Wartburg, kein Franzose, kannte zwar alle Wörter, die der Littré aufführte – und noch ein paar mehr –, aber wenn er sprach, verstanden die Franzosen gar nichts und wir Deutschschweizer kaum etwas. Nicht einmal die, die aus demselben Dorf wie er stammten. Akzentforschung war nicht sein Gebiet; bei ihm galt das geschriebene Wort.
    LOUIS Wiesmann war so etwas wie die rechte Hand Walter Muschgs und leitete dessen Proseminare. Auch er war dürr und grau. Ihm verdorrten sogar die Wörter auf der Zunge, die gar nicht von ihm waren. Er zitierte zuweilen Goethe, aber auch dessen Zauberwörtern gelang es nicht, unbeschädigt seinem Mund zu entrinnen. Das lebensvollste Gedicht klirrte tot zu Boden, wenn Louis Wiesmann es vorlas. Was genau er lehrte, habe ich vergessen. Goethe, alles in allem, oder wie man die Bleistifte korrekt spitzt. Ganz sicher nicht die Sütterlin-Schrift, die jeder Germanist, der ein Manuskript der frühen Jahre des 20.   Jahrhunderts lesen will, kennen muss und mit der ich bis heute meine Mühe habe. (Ich musste später den Hamlet von Alfred Döblin zum Druck bringen; ein Lektor, der seinen Autor nicht lesen konnte.) – Louis Wiesmann wäre wohl gern der Nachfolger Walter Muschgs geworden. Als dieser starb, blühte in ihm gewiss für einige Hoffnungsminuten der Traum auf, endlich den großen Schritt auf den Thron zu tun. Denn in jenen Zeiten geschah es oft, dass ein Großer sich einen Kleinen, einen Winzling, als Nachfolger wünschte, weil dann sein Nachruhm länger leuchtete und sich die Studenten späterer Generationen seiner mit einer namenlosen Sehnsucht erinnerten, obwohl sie ihn gar nie erlebt hatten. Aber so kam es nicht. Walter Muschgs Nachfolger, nach einem Interregnum von zwei, drei Jahren, war kein W, sondern ein P.
    WALTER Muschg also. Allein schon, wie er, noch unsichtbar, dem Hörsaal zuschritt! Seine Schritte kamen wie die des Komturs näher, als seien seine Schuhe aus Stein, und wir Studenten im Hörsaal (überfüllt) verstummten, wenn wir das näher kommende Ereignis hörten. Dann war er da, Walter Muschg: ein kleiner mächtiger Mann mit durchdringend blickenden Augen unter Brauen, die regelrechte Büsche waren. Keine Eingangsfloskeln, es ging gleich los. Er rang mit den Wörtern, stellte sie einzeln vor sich und uns hin (nahm er uns überhaupt wahr?), er war immer im Herzen des Tragischen und der poetischen Notwendigkeit. Von ihm weiß ich noch vieles. Er war kein neutraler Gelehrter, er war radikal parteiisch, hasste und liebte. Er mochte zum Beispiel Thomas Mann nicht und begründete das auch (»die Parodie ist die List, mit der er sein Unvermögen verdeckt, die Sprache des Dichters zu reden«), und er war der Erste an einer deutschen Uni, der die Vorlesungen eines ganzen Semesters ausschließlich Franz Kafka widmete, was damals bei vielen höchstes Befremden auslöste, weil Kafka – in den Augen der Germanistik von damals – beinah noch so etwas wie ein Zeitgenosse war; und von Zeitgenossen sprach ein Germanist nie. Walter Muschg allerdings tat das. Er stritt für das Ansehen von Ernst Barlach oder Alfred Döblin oder, allen voran, Hans Henny Jahnn, die alle damals noch wenig galten. Er liebte die Expressionisten, und August Stramm, einer der außenseitigsten Außenseiter der deutschen Literatur, kam in seinen Vorlesungen vor. Er liebte das Gedicht Weltende von Jakob van Hoddis und las es uns vor. »Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut«, und Muschg schaute uns mit Augen an (ja, er sah uns doch), die brannten und uns fragten, ob wir auch merkten, dass da das Ende verhandelt wurde, unser Ende, und dass das kein Spiel war. – Lob war nichts, was man von ihm erwarten durfte. Wer mit seiner Seminararbeit einigermaßen ungeschoren davongekommen war, war überglücklich. Er war umgeben von langsam altersgrau werdenden Studentinnen und Studenten, die an ihrer Dissertation und ihrem Lehrer verzweifelten,

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