Reise zum Rand des Universums (German Edition)
dem Punkt des letzten noch im Gehen gesprochenen Satzes, ein Dokument in die Höhe halten zu können, das die ganze Zeit über schon bereitgelegen hatte und die Pointe des im Wandern Entwickelten war.
Einmal allerdings verrannte er sich tatsächlich – er war just bei der hintersten Reihe – in ein Gestrüpp aus Widersprüchen – ich glaube, es ging um die »Neuenburger Frage«, eventuell auch um die »Savoyer Frage«, oder um beide zusammen –, aus dem er heil nur herauskam, wenn er hic et nunc die korrekte Jahreszahl nannte; die er aber nicht präsent hatte; so dass er, stumm und versteinert (ja, er hatte zuweilen auch etwas Versteinertes), den ganzen Weg, unzählige Stufen hinunter, zum Podium zurückging – gefühlte fünf Minuten lang, denn der Saal war riesig – und dann, am Katheder angekommen, ins Manuskript schaute und sagte: »1856!« Applaus, nun lachte auch Bonjour. – Oft auch sprach er französisch, hielt also auch hie und da seine Seminare auf Französisch und nicht, wie im deutschsprachigen Basel üblich, auf Deutsch. Wir taten so, als sei das das Normalste der Welt, auch wenn es in Bonjours Oberseminar gestandene Historiker gab, die besser Kirchenlatein als Französisch konnten. Bonjour unterbrach sich dann irgendwann einmal mitten in einem Satz, schlug die Hand gegen die Stirn und rief, ach je, jetzt habe er doch tatsächlich die ganze Zeit über französisch gesprochen, ja, wir müssten ihm das doch bitte sagen, er sei so sehr bilingue, dass ihm so ein Versehen einfach nicht auffalle. (Er war aus Bern, sprach ein aristokratisches Stadtbernisch und, eben auch, ein edles Französisch aus den Zeiten der Berner Herrschaft über die Waadt.) Auch mich prüfte er auf Französisch, und auch bei mir sagte er kurz vor dem Ende des Promotionsgesprächs – ich hatte natürlich französisch geantwortet –, herrje, er spreche ja französisch, also so was, ich hätte ihm das sagen sollen. Walter Muschg, Heinz Rupp und Toni Reinhard (der Nachfolger von Wartburgs), die das schon ein paarmal miterlebt hatten, feixten ohne jede Zurückhaltung. Natürlich war das ein Kompliment an meine Adresse. Es hieß, diesen Studierenden schätze ich so sehr, dass ich mit ihm in meiner eigensten Sprache – die er eben auch beherrscht – sprechen kann. – Einmal kam Bonjour so angeheitert ins Seminar – er kam von einem Staatsakt aus Bern –, dass er kicherte und giggelte, unklare Scherze machte, Le bateau ivre von Anfang bis Ende aufsagte und hie und da ein paar Takte einer musetteartigen Melodie summte. Irgendwann brach er, immer noch bester Laune, das Seminar ab und schickte uns nach Hause. Auch wir waren bester Laune. – »Ihr müend in diplomatische Dienscht!«, sagte er zu mir und bohrte mir seinen Zeigefinger in die Brust. (Er rekrutierte im Auftrag des Bundes zukünftige Botschafter und Kulturattachés.) Ich nickte und wurde dann doch nicht Konsul in Kisangani oder Aserbaidschan. – Als ich einen polemischen Artikel voller Albernheiten in der Studentenzeitung Kolibri geschrieben hatte (ich füllte eine Zeitlang die ganze Nummer mit meinen Scherzen und zeichnete auch die Titelblätter), sagte er zu mir: »Ihr müend nit under em Schtrich, Ihr müend über em Schtrich schriibe!« (Der Strich, den gab es damals noch in den meisten Tageszeitungen. Das untere Drittel der Seite war von den oberen zwei Dritteln durch einen Strich abgetrennt. Drüber standen die ernsten Dinge – Politik, Wirtschaft –, der Raum unterm Strich gehörte dem Feuilleton. Dank der Bemerkung Bonjours begann ich, auch unter dem Strich mit jenem Ernst zu schreiben, den er für ein Denken über dem Strich einforderte.) – Später, als ich schon nicht mehr an der Uni war, suchte ich ihn im Archiv des Bundeshauses in Bern auf. Er arbeitete an seinem Bericht über das Verhalten der Schweiz im Zweiten Weltkrieg (dem dann so genannten »Bonjour-Bericht«), und ich war Lektor im Walter-Verlag in Olten geworden und hatte Otto F. Walter eingeredet, wir hätten eine Chance, das Buch im Walter-Verlag zu machen, ein Prunkstück des Programms, wenn ich zu Bonjour führe und ihn von meinem Plan überzeugte. Gute Honorare, gutes Lektorat. Ich wurde in eine Art Estrich geführt – Akten, Akten –, in einen lichtlosen Raum, einen Schlauch eher, an dessen fernem Ende Edgar Bonjour mutterseelenallein an einem winzig kleinen Tischchen saß und mir mit seinem Eulenblick entgegensah. (Ja, wie eine Eule sah er auch aus.) Er war sehr freundlich, aber
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