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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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werden? Weißt du noch?: dass ich jeden Abend bei dir auftauchte und nie den Gedanken dachte, dass zumindest Eva denken konnte, musste!, dass das ein bisschen oft war? (Wenn du es gedacht hättest, hättest du es mir gesagt; und ich war ja auch nicht jeden Abend da.) – Wie wir schon, wenn ich auf dein Haus zuging, durchs offene Fenster miteinander sprachen? Wie wir nebeneinander auf der Couch lagerten, die brandneue Sergeant Pepper’s Lonely-Hearts-Club-Band -Platte auflegten und ich mich – vom ersten dieser unglaublichen Töne an – wie jener Bob in Montpellier fühlte, als er zum ersten Mal in seinem Leben Mozart hörte (von einem musikalischen Urerlebnis durchwühlt)? Dass ich dich – das weißt du nicht; aber du weißt, wovon ich spreche – mit einer Frau im Auto sitzen sah, du am Steuer, sie neben dir, und auf der Stelle wusste, dass sie deine Geliebte war, obwohl du gar nichts Besonderes tatest und sie eigentlich auch nicht (sie sah dich mit einem schnellen Blick von der Seite her an)? – Dass, als Eva wieder schwanger wurde, ich das bis zu ihrer Niederkunft nicht bemerkte? Ich ihren Babybauch einfach weghalluzinierte? Wie Babette, die trotzdem mein Patenkind wurde, finster hinten im Auto saß, als wir von La Rösa zu den norditalienischen Seen und ins Tessin fuhren, und auch dann in ihr Comicstrip-Heft starrte, wenn wir beide überwältigt von der Schönheit der Landschaft »Oh!« und »Schau doch, Babette!« riefen. (Und der Lago di Como ist schön.) Wie wir, in jenem Tessin angekommen – du, Babette, ein paar Tessiner Freundinnen und Freunde, ich –, splitternackt im blauen Wasser der Maggia oder eines Nebenflusses der Maggia badeten, das eine Folge von teichgroßen Schwimmbecken zwischen weißem Gestein und Trauerweiden bildete, und wie wir alle, einer hinter der andern, auf spiegelglatten Marmorrutschen von Becken zu Becken glitten, gischtend von Stufe zu Stufe und dem Glück so nah wie nur irgend möglich? – Wie wir – May war auch dabei – eine richtige Bergtour machten, einen Achtstünder mit, sagen wir, tausend Höhenmetern, und auf dem Hosenboden Altschneehänge hinunterrutschten? Wie dann die letzten Stunden bis nach La Punt doch sehr lang wurden? – Wie wir dicht nebeneinander vor deinem irgendwie illegalen Funkgerät hockten, wie Verschwörer, und den Polizei- und, vor allem, den Flugfunk abhörten? Die Gespräche zwischen dem Tower des Flugplatzes von Basel-Mülhausen und den anfliegenden Piloten?, und wie sie, nachdem Lotse und Pilot sich erkannt hatten – »Whisky Bravo, bisch dü des, Jean?« –, alle Coderegeln seinließen und den Anflug elsässisch bewältigten? – Wie, in einem wahrhaft englischen Nebel, eine Maschine aus Birmingham oder Manchester die Piste nicht fand? (Ich war in der Stadt und hörte sie, beunruhigend tief, über der Stadt kreisen. Immer und immer wieder, fern, nah. Mit der Zeit wurde mir klar, dass da etwas nicht richtig war, und fuhr – Nebel auch in den Straßen – mit meiner Vespa zu Max. Der stand vor seinem Funkgerät und starrte es an. Schweiß auf der Stirn. Die Stimme des Lotsen krächzte: »Seven zero, do you hear me?« oder etwas in der Art. Er wiederholte seinen Ruf mehrmals und klang immer weniger professionell. Der Pilot antwortete nicht. Es stellte sich dann heraus, dass seine Maschine – kein Benzin mehr – in einen Jurahügel gestürzt war, ein paar hundert Meter neben dem Weekend-Haus von Anne-Maries Eltern. Viele Tote.) – Wie wir dann oft auf ebendiesem Flugplatz waren – das Abfertigungsgebäude war eine Holzbude und glich einem Western-Saloon; nur die Schwingtüren fehlten –, weil wir für Gottes Lohn beim Schweizerischen Studenten-Reisedienst aushalfen und zwei Mal pro Woche spät in der Nacht Schwedinnen oder Schotten abholen und in die Jugendherberge geleiten mussten? Wie immer eine Schwedin und ein Schotte übrigblieben, bettlos, und wir sie zu uns nach Hause nahmen? Du die Schwedin, ich den Schotten? Max! Das weißt du doch noch! Es ist doch kaum fünfzig Jahre her! In meinem Alter, Max, ist inzwischen alles fünfzig Jahre her; wenn ich sehr Glück habe, nur dreißig.
    Weiß man überhaupt noch, Max, im Paradies oder wo immer du jetzt bist – in der hundertsten Dimension, im Nirwana, im Hades –, was einst im Leben war? Ist es in irgendeiner Form noch wichtig? Oder war dieses Leben so oder so nur eins in einer Abfolge von unendlich vielen – seit dem Anbeginn aller Zeiten –, jedes anders, eins als Amöbe, eins

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