Reise zum Rand des Universums (German Edition)
ich das Buch sofort – sie liebte es – und habe immer noch, wenn ich heute über den Titel stolpere, ein warmes Gefühl der Zuneigung für den armen Nolten, oder inzwischen eher für den armen Urs von damals, obwohl mir entfallen ist, um was es überhaupt ging. Gift und Dolch. Allerhand Verhextes. Eine Braut, mit der alles schiefging, ja, und am Schluss waren sie und Nolten tot.
Auch bereitete sich Brigitte auf ihre Agrégation vor, ein akademisches Spitzenexamen der Allerbesten Frankreichs, mit dem man, wenn man es bestanden hatte, dann doch zumeist Schulmeister an einem Provinzgymnasium wurde. Sie arbeitete und ochste, und ich fragte sie mit Hilfe ihrer Lehrbücher ab, bis sie, vom vielen Büffeln besinnungslos, zur entscheidenden Prüfung nach Paris oder eventuell Besançon taumelte, bei der in ganz Frankreich sekundengenau zum gleichen Zeitpunkt der gleiche französische Text an die Kandidaten ausgehändigt wurde, eine vertrackte, um nicht zu sagen: hundsgemeine Abfolge von Sätzen voller Fallen, die sie ins Deutsche übertragen musste. Zeitlimit 90 oder 120 Minuten. Sie fiel durch. Sie hatte einen Fehler zu viel gemacht und war außer sich, weil ihr Examinator ihre Übersetzung der französischen tomate mit Tomate angestrichen hatte und der Ansicht war und blieb, die korrekte deutsche Übersetzung der tomate sei Liebesapfel. (Brigitte bestand die Prüfung ein Jahr später; da kannte ich sie immer noch; aber anders.) – Wir aßen oft zusammen – kaum mehr in der Bayrischen Bierhalle; meist im ›Paradies‹ – und gingen ins Kino. Louis Jouvet, Michel Simon und Arletty, die schon damals Klassiker waren. Und die Série-noire-Filme: Jean Gabin, Lino Ventura, Annie Girardot. Wir hielten uns bei den Händen, wenn die Citroëns traction avant um die Kurven kreischten und die Gangster aus allen Rohren schossen. Scheibenwischer, die den Sturzregen kaum beiseiteschaffen konnten. Frauen in schwarzen Regenmänteln. Männer, die mit der Zigarette im Mund sprachen. Auch Brigitte trug einen schwarzen Regenmantel, und mit der Zigarette (Camel) im Mund reden konnte sie auch. Ich war, damals schon, Nichtraucher.
Unsere Passion, die vor allem meine war, endete so. Wir fuhren im heißesten Sommer – das war wohl 1961 – nach Florenz und stellten auf dem Campingplatz von Fiesole mein Zelt auf. (Wenn Georges Blin uns gesehen hätte! Wir beide avec ma tente, einem – so sagte es das Markenschild – Spatz 50 !) Essen taten wir in einer Trattoria, von der aus wir die ferne Domkuppel sahen, die im Licht der untergehenden Sonne glühte. Zypressen zu unsern Füßen, irgendwo stand die Villa von Böcklin. Spaghetti, Rotwein. Wir redeten wie immer; vielleicht, dass an diesem letzten Abend eher ich redete. Wir sprachen über die Kunst, die Künste: Wir waren schließlich in Florenz! Brigitte war, radikaler als im Basler Alltag, der Ansicht, dass in unserm Jahrhundert noch kein einziges gutes Bild gemalt worden sei. Picasso, pah!, Matisse. Als Äußerstes der Moderne ließ sie Corot gelten, hielt ihm aber die Vollendung eines Poussin und Fragonard entgegen. Auch Fra Angelico und Botticelli bestanden die Prüfung. Mit der Literatur ging sie noch strenger ins Gericht. Kein lesenswertes Buch nach Flaubert. Auf Deutsch sowieso nicht.
Es war dennoch schön; Brigitte liebreizend. Im Zelt, als wir nach Mitternacht schlafen gehen wollten, glühte die Luft allerdings immer noch. Trotz der Hitze kroch Brigitte sofort in ihren Schlafsack, ohne sich auszuziehen und so, dass nur noch ihr Kopf aus den Daunen sah, ihr Hinterkopf, denn sie lag mit dem Rücken zu mir. Kein Wort mehr. Ich fragte, was los sei, versuchte wohl auch, sie an den Hüften zu fassen und zu mir herzudrehen. Ich wollte ihr Gesicht sehen, nicht ihre Haare. Ich bettelte gar, weil ihre absolute Ablehnung in mir die Notwendigkeit weckte, jetzt, jetzt genau mit ihr zu schlafen. Als eine meiner Hände versuchte, in ihren Schlafsack einzudringen, fuhr sie in die Höhe und brüllte, non!, es reiche ihr jetzt, und überhaupt. – Wir lagen die Nacht über wie Stöcke nebeneinander. Ich glaube, auch sie tat kein Auge zu. Nahe beieinander, weil das Zelt winzig war, aber ohne uns zu berühren. Ich hörte sie atmen und, manchmal, schnauben. Am frühesten Morgen kroch sie ins Freie, rückte ihr T-Shirt und die Jeans zurecht und packte ihre Siebensachen, immer noch stumm und mit steinernem Gesicht. Sie ließ dann aber doch zu, dass ich ihre Tasche zur Busstation trug und mit ihr zum
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