Reise zum Rand des Universums (German Edition)
als Wurm, eins als Gorilla, eins als römischer Legionär, der ums Jahr null herum in Jerusalem Dienst tat, an jenem Tag aber freihatte und die ganze Jesus-Geschichte nur vom Hörensagen mitbekam? (Das hätte ich gern gesehen, du mit camisola und bracae angetan und einem pilum in der Hand.) Weißt du überhaupt noch, wer ich bin? Ulle? Dass ich dein bester Freund war?
(Max schaffte es übrigens, an Darmkrebs zu erkranken, eine Operation und Bestrahlungen aller Art zu überstehen und nicht zu erfassen, dass er Krebs hatte. Er wurde gesund und war für eine kurze Zeit wieder der alte Max. Lebte nun noch entschiedener in seiner Kate im Elsass, zwischen Bohnen, Tomaten, Schafen und Hühnern. Verstruppte immer mehr und war, wenn er im Garten stand, kaum mehr von seinen Gewächsen und Tieren zu unterscheiden. Erst als ihn die Krankheit erneut überfiel, wurde ihm die Diagnose klar. Er kämpfte, ich weiß nicht, ob er kämpfte. Er, der eh schon Magere, wurde immer dürrer. Zum Erbarmen. Als ich ihn zum letzten Mal besuchte, lag er bewegungslos auf dem Rücken, wie Ferdinand Hodlers Frau, und sah mit weißen Augen zur Zimmerdecke hoch. Bewegungslos. Mir war nicht klar, ob er überhaupt bemerkte, dass ich da war, und ob er hörte, was ich zu ihm sagte. Ich sagte, dass ich ihn gernhätte. Er zuckte nicht einmal mit den Wimpern, und so ließ ich nach einiger Zeit mein Reden bleiben und saß stumm neben ihm. Endlich stand ich auf, legte meine Hand auf seine und sagte, dass ich jetzt gehen müsse. »Mach’s gut«, oder wie sonst man von einem Sterbenden Abschied nimmt. Da sagte er, mit seiner Stimme wie immer: »Salli, Ulle!« Mit seiner Stimme wie früher. Laut, klar, heiter, gesund.)
AUCH meine Ticks wurden erwachsen, das heißt, ich verlor sie und begriff nicht, dass sie verändert an einer andern undichten Stelle wieder auftauchten. Ich dachte, die Probleme seien gelöst, weil sie verschwunden zu sein schienen. Ich schlug nämlich nicht mehr mit dem Arm gegen den Kopf, wenn ich schlief. Ich verknotete auch meine Haare nicht mehr und riss sie aus. (Meine Haare verlor ich Jahre später, auf natürlichem Weg.) Kein kleiner Schmerz mehr, den ich genoss. Ich rieb mir auch den Daumen nicht mehr blutig und stand auch nicht mehr starr und steif in einer Zimmerecke, hitzig phantasierend. Pfeifen, das tat ich immer noch; tue es bis heute, und auch heute bedeutet es zuweilen, dass ich – hört nur! – noch am Leben bin und voller Lebenslust.
Ich entwickelte neue Marotten. Sie waren weder erfindungsreicher noch wirkungsvoller als die alten. Sie waren einfach noch nicht enttarnt. Nun begann ich, mit dem Kopf zu ruckeln. Ein Zwang fürwahr, der mich auch heute nicht völlig verlassen hat. Noch immer, seltener als einst, bewege ich den Kopf mit jähen Rucken, die mich wie einen Truthahn aussehen lassen, der im Gefängnis seines Geheges des Wegs geht. In seinen Körper eingeschlossen, ohne Ausweg. Das Ziel des Kopfruckelns war (und ist), den Halswirbeln ein Knacken abzunötigen. Einen satten Knall. Es war, als wolle ich mit einem Ruck – dieser wäre dann allerdings der letzte gewesen; ich hätte meinen Frieden gefunden – alle meine Probleme ins Lot bringen, und die der Welt gleich mit. (Ich entwickelte mich auch zu einem Atlas und wollte oder musste das Gewicht der Welt allein tragen.) Als mir das Halswirbelknacken zum ersten Mal zustieß, war ich weder Bub noch Mann. Ich lugte erst, noch im Kinderraum stehend, durch einen Türspalt in den Raum der Erwachsenen hinein. Was die erwachsenen Männer dort taten; wie sie redeten; auch mit Frauen, als seien die ganz normale Menschen. Das Onanieren hatte ich schon entdeckt; aber ich glaube nicht, dass das Kopfruckeln es ersetzen sollte. Es kam zu meinem Portnoy-Dasein einfach hinzu. Ich stand im Haus an der Wenkenstraße, in Noras Zimmer (sie war aber nicht da; was wollte ich dort?), sah in den Garten hinunter (ein trüber Tag; Nebelfeuchte) und drehte zum ersten Mal den Kopf so hin und her, wie ich das dann noch hunderttausend oder zehn Millionen Male tun sollte. Das Halskrachen geschah mir zum ersten Mal wie eine Antwort, die ich nicht verstand, weil ich die Frage nicht kannte. Wie eine Erlösung, die mich nicht erlöste und nach der ich darum immer erneut suchte. Ich wurde bis heute nicht erlöst; was zuvor nicht in Ordnung gewesen war, war es auch nachher nicht. Aber der immer neue Versuch musste offenkundig sein, und muss es zuweilen, wenn inzwischen auch beiläufiger, immer noch. –
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