Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
Vom Netzwerk:
erneut antrieb, sie, ja, glücklich zu machen. Das war der Fachterminus von damals, »eine Frau glücklich machen«, und das, nicht mehr und nicht weniger, wollte ich mit Brigitte erreichen. Ich wollte sie retten. Ich wollte eine melancholische, Witze reißende Frau in eine strahlend hingegebene verwandeln. Erlöst läge sie da, lächelte in einem Glück zu mir hoch, das sie bislang nicht gekannt hätte, und ich wäre ihr Held.
    Um das Maß voll zu machen: Brigitte hatte eine Nachbarin, die ebenso wie sie eine Einzimmerbude mit Kochnische bewohnte, und die hatte einen Liebhaber, der sie stets an den Nachmittagen und nie in den Nächten besuchte und seine Hosen vermutlich schon unter der Tür auszog. Jedenfalls, kaum hatten wir die Tür ins Schloss fallen hören, heulte die Nachbarin bereits los. Sie schrie wie ich noch nie eine Frau hatte jubeln hören – mein Gott, dass so was möglich war! –, laut, sehr laut gleich vom ersten Stoß des Liebhabers an, denn wir konnten die sich steigernde Kadenz der Liebhaberstöße – eine Dampframme fürwahr! – dank dem Auf- und Abschwellen der Sirenentöne der Nachbarin mitvollziehen. Keine Frage, dieser Liebhaber machte seine Geliebte glücklich. Er blieb unhörbar bis kurz vor der Apotheose – nun hielt die Nachbarin, fortissimo, einen Ton –, in der er endlich eine Folge trompetenartiger Laute ausstieß. Wir saßen da, Brigitte und ich, und hörten zu. Wir sagten kein Wort und rührten uns erst wieder, wenn die auf der andern Seite der Wand still geworden waren. Brigitte zündete ihre schon angerauchte Zigarette (Camel) neu an, und ich nahm einen Schluck Kaffee, der kalt geworden war. Nie versuchten wir es dann selber, angeregt vom Beispiel der Liebenden. Im Gegenteil, einmal, als wir , ausnahmsweise, halbwegs ausgezogen an uns herumküssten – ich küsste, Brigitte ließ sich küssen – und das Toben drüben bei der Nachbarin unvermittelt wie ein Überfall einsetzte, erstarrten wir mitten im Kuss, hörten eine Weile lang zu und zogen dann, als verbiete uns das Geheul nebenan jedes weitere Lieben, die Hosen hoch. – Einmal traf ich die beiden auf der Treppe. Die Frau war eine ganz normal nette Frau mit einer weißen Bluse, und der Liebhaber ein langer Lulatsch mit einem Bürstenschnitt, eine Mappe in der Hand.
    Brigitte war älter als ich, so was wie sechs Jahre älter, was mir – ich war Anfang zwanzig – viel zu sein schien, sehr viel. Fast ein bisschen peinlich. Georges Blin mochte denken, sie sei meine derzeitige Tante. In der Tat kannte er sie; sie arbeitete ja in seiner Fakultät; er bat sie aber offenkundig nie, seine Tante zu werden. Seine Professorin vor den Augen aller andern zu erobern, das war nicht schlecht. Ich war, glaube ich, schon ein bisschen stolz, dass sie nach ihrer Lektion vor der Tür auf mich wartete und wir zusammen den Korridor hinuntergingen. Sie rauchte (Camel), ich redete. Dennoch ging ich bald nicht mehr zu ihren Kursen. Ich bekam ja Privatunterricht. Kein Argot-Wort war ihr fremd, sie beherrschte die ganze Skala unflätiger Redensarten zwischen dem 16.   Jahrhundert und der Gegenwart, obwohl ihr Vater – erzählte sie – ein würdiger Schuldirektor war oder gewesen war, in Tulle eben, und sie, wenn sie wollte, wie Madame Pompadour reden konnte . J’eusse préféré que vous vinssiez seul oder Veuillez bien me passer le sel afin que j’en mette quelques grains sur mes pommes frites. Sie wollte aber nicht immer. Sie gebrauchte gern farbige und heftige Wörter und las jede Woche den Canard enchaîné, der ausschließlich aus Kalauern bestand und die französischen Politiker, de Gaulle allen voran, mit Wörtern in der Luft herumwirbelte. Sie wieherte, rot im Gesicht, und ich glotzte verständnislos, wenn sie mir eine besonders großartige Wörterkaskade vorlas. Sie liebte Comicstrips und nannte mich in zärtlichen Augenblicken Croquignol, der der Blödeste eines Trios von Tolpatschen einer bande dessinée war.
    Wir trafen uns – jeden Tag – an den Stehtischen im Warenhaus Globus, wo der Espresso (eine Seltenheit damals in Basel, wo alle ihre Schale Gold schlürften; Kaffee und Milch halbe-halbe) gut und billig war. Sie kam aus dem Romanischen, ich aus dem Deutschen Seminar. Da standen wir und redeten. Sie was, ich was, beide zusammen etwas. Gelächter, noch ein Espresso. Sie sprach im Übrigen fließend Deutsch und arbeitete über Eduard Mörikes Maler Nolten. Irgendeine wegweisende Groß-Arbeit für die Sorbonne. Natürlich las

Weitere Kostenlose Bücher