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Reisen im Skriptorium

Reisen im Skriptorium

Titel: Reisen im Skriptorium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Bitte sagen Sie mir, wer ist das?
    Einer Ihrer Mitarbeiter, Sir.
    Sie meinen: jemand, den ich mit einem Auftrag weggeschickt habe?
    Mit einem außerordentlich gefährlichen Auftrag.
    Hat er überlebt?
    Das weiß niemand genau. Aber die vorherrschende Meinung ist, dass er nicht mehr unter uns weilt.
    Mr.   Blank stöhnt leise in sich hinein, bedeckt sein Gesicht mit den Händen und flüstert: Noch einer der Verdammten.
    Entschuldigen Sie, unterbricht ihn Flood, ich habe nicht verstanden, was Sie gesagt haben.
    Nichts, erwidert Mr.   Blank etwas lauter. Ich habe nichts gesagt.
    Das Gespräch gerät ins Stocken. Einige Augenblicke lang herrscht Schweigen, und in diesem Schweigen glaubt Mr.   Blank ein Rauschen zu hören, einen kräftigen Wind, der irgendwo in der Nähe durch eine Baumgruppe fährt, ganz in der Nähe, doch ob dieser Wind real ist oder nicht, kann er nicht sagen. Unterdessen lässt Flood das Gesicht des alten Mannes nicht aus den Augen. Als das Schweigen unerträglich geworden ist,unternimmt er schließlich einen zaghaften Versuch, den Dialog wiederaufzunehmen. Nun?, sagt er.
    Nun was?, gibt Mr.   Blank zurück.
    Der Traum. Können wir jetzt über den Traum reden?
    Wie kann ich über den Traum eines anderen reden, wenn ich nicht weiß, was für ein Traum das war?
    Das ist ja gerade das Problem, Mr.   Blank. Ich selbst habe keine Erinnerung daran.
    Dann kann ich nichts für Sie tun. Wenn wir beide nicht wissen, was sich in Ihrem Traum zugetragen hat, können wir nicht darüber reden. Es ist komplizierter als das.
    Wohl kaum, Mr.   Flood. Es ist ganz einfach.
    Das kommt nur daher, dass Sie sich nicht an den Bericht erinnern, den Sie geschrieben haben. Wenn Sie sich jetzt konzentrieren, ich meine, Ihre Gedanken wirklich ganz darauf richten, fällt es Ihnen vielleicht wieder ein.
    Das bezweifle ich.
    Hören Sie. In Ihrem Bericht über Fanshawe erwähnen Sie, dass er Verfasser mehrerer unveröffentlichter Bücher war. Eins davon hieß
Neverland
. Abgesehen von Ihrer Vermutung, gewisse Ereignisse in dem Buch gingen auf gewisse Ereignisse in Fanshawes Leben zurück, sagen Sie leider nichts dazu, nichts zur Handlung, überhaupt nichts zu dem Buch. Nur eine kurze Nebenbemerkung – in Klammern, will ich noch dazusagen   –, die folgendermaßen lautet. Ich zitiere aus dem Gedächtnis:
(Montags Haus in Kapitel sieben; Floods Traum in Kapitel dreißig)
. Da Sie, Mr.   Blank,
Neverland
also offensichtlich gelesen haben und da Sie einer der wenigen auf der Welt sind, die es gelesen haben, wäre ich Ihnen zutiefst dankbar, aus tiefstem Grunde meines unglücklichen Herzens dankbar, wenn Sie versuchen könnten, sich den Inhalt dieses Traums ins Gedächtnis zurückzurufen.
    So wie Sie davon reden, ist
Neverland
offenbar ein Roman.
    Ja, Sir. Ein literarisches Werk.
    Und Fanshawe hat Sie darin auftreten lassen?
    Allerdings. Daran ist doch nichts Merkwürdiges. Soweit ich weiß, tun Schriftsteller das ständig.
    Das mag sein, aber ich verstehe nicht, warum Sie darüber so in Wallung geraten. Den Traum hat es nie gegeben. Das sind nur Worte auf einem Blatt Papier – reine Erfindung. Vergessen Sie das, Mr.   Flood. Es hat nichts zu bedeuten.
    Für mich hat es etwas zu bedeuten, Mr.   Blank. Mein ganzes Leben hängt davon ab. Ohne diesen Traum bin ich nichts, buchstäblich nichts.
    Die Leidenschaft, mit der der sonst so reservierte Expolizist diesen letzten Satz ausspricht – eine Leidenschaft, die vom Schmerz einer echten, herzzerreißenden Verzweiflung entfacht wird   –, macht auf Mr.   Blank einen geradezu komischen Eindruck, und zum ersten Mal seit den ersten Worten dieses Berichts lacht er laut auf. Wienicht anders zu erwarten, reagiert Flood gekränkt, denn niemand hat Freude daran, wenn ein anderer so herzlos auf seinen Gefühlen herumtrampelt, am allerwenigsten ein so dünnhäutiger Mensch, wie Flood es in diesem Augenblick ist.
    Das nehme ich Ihnen übel, Mr.   Blank, sagt er. Sie haben kein Recht, mich auszulachen.
    Schon möglich, sagt Mr.   Blank, als der Krampf in seiner Brust sich gelegt hat, aber ich konnte einfach nicht anders. Sie nehmen sich so furchtbar ernst, Mr.   Flood. Und das wirkt nun einmal lächerlich.
    Vielleicht bin ich lächerlich, sagt Flood mit zunehmender Wut, aber Sie, Mr.   Blank   … Sie sind grausam   … grausam und gleichgültig gegen den Schmerz Ihrer Mitmenschen. Sie spielen mit dem Leben anderer Leute und übernehmen keine Verantwortung für das, was Sie getan

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